REAL VIRTUALITY: DER GARTEN, DIE WÄRTER, DAS JÜNGSTE GERICHT

PRESSE ERKLÄRUNG

ROTRAUT PAPE: REAL VIRTUALITY
Der Garten
Die Wächter
Das Jüngste Gericht

Dauer der Ausstellung: 6. bis 29.November1998
Eröffnung: Donnerstag. 5. November 1998,17 Uhr

"Diese Arbeit beruht auf einer wahren Begebenheit. Eines Tages saß ich am Mittagstisch. Plötzlich bewegte sich das verrückte Steak auf dem Teller. Die Reiskörner richteten sich nach Norden aus. Der Salat breitete die Flügel aus und flog davon. Ich beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen."

Was Rotraut Pape zu Ihrer Videoinstallation "Der Garten", schreibt, klingt wie der Anfang von einem Märchen oder Science Fiction. Ihre Forschung führt uns in den Garten Eden, in dem Natur und Mensch noch eins waren. Aber es ist ein diesseitiger Paradiesgarten, einer dessen Grundlage der Sündenfall ist. Real Virtuality.

Rotraut Pape, 1956 in Berlin geboren, studierte an der HbK Hamburg bei Claus Böhmler und KP Brehmer, der gerade im Fridericianum eine große Retrospektive hat. Sie konzentrierte sich sehr früh auf die Medien Film/Video/Computer, interessierte sich aber weniger für deren technologische Möglichkeiten - obwohl sie diese virtuos beherrscht, sondern für deren künstlerisches Potential, Formulierungen für gesellschaftliche, d.h. politische und ethische Fragestellungen zu entwickeln. Deshalb spielen Performance und Installation in ihrer Arbeit eine so große Rolle (auch in ihren Videos), als tatsächliche Aufführung und interaktives Spiel.

Im vollkommen abgedunkelten Kasseler Kunstverein zeigt Rotraut Pape drei aufwendige Videoinstallationen:

Die erste, "Der Garten" (1997 mit dem Transmediale Festival-Preis in Berlin als beste Installation ausgezeichnet) besteht aus sieben Stationen. Je eine Frucht, auf einem Teller präsentiert, ist über zwei Kabel mit einem Monitor verbunden, auf dem Bilder aus ihrem Inneren zu sehen sind. Es sind Kernspintomographien, die als animierte Schnitte oder 3-D Volumenrekonstruktionen für Video bearbeitet wurden. Zwei überdimensional projizierte Köpfe, Mann und Frau, sind "die Wächter". In gleicher Weise tomographiert und animiert, drehen sie sich majestätisch um sich selbst. Es herrscht eine seltsam widersprüchliche Stimmung. Hier hat jemand gebastelt, aber die Technik ist so aufwendig und glaubhaft, daß es tatsächlich eine wissenschaftliche Versuchsanordnung sein könnte oder der Showroom eines Gentechnikkonzerns.

Ähnlich widersprüchlich: zwischen medizinischem Untersuchungsraum und Computerspiel, erscheint die zweite Installation, ihre neueste Arbeit. Eine Instanz lockt den Betrachter in einen Lichtkreis, wo seine Bewegungen erfaßt und sein Körper als computertomographische Bildsequenz an die Wand projiziert wird. Bleibt er stehen, erscheinen nach einer Weile auf einer zweiten Ebene verschiedene neue Bilder, die offenbar in diesem Moment von diesem Kopf erzeugt werden. Verläßt der Proband den Lichtkreis, bleibt die letzte Bildsequenz als Loop auf der Wand stehen. Rotraut Pape blickt - stellvertretend - in ihren Kopf und öffnet, über den biologisch medizinischen Befund, der Lokalisierung von Gehirntumoren, hinaus, den Zugang zu mentalen oder kognitiven Kräften und Ereignissen. Virtualität, eingescannt, scheint verfügbar zu sein als digitale Realität.

Die dritte Installation, "Das jüngste Gericht" ist ein seltsames Abendmahl. Ein gedeckter Tisch ist umstellt von fünf Monitoren. Die Teller sind gefüllt mit Speisen, die sich auf den zweiten Blick als generiert und animiert herausstellen. Ananas, Melone, Vollkornbrot und andere Früchte vom Baum der Erkenntnis machen höchst verwunderliche Metamorphosen durch, präsentieren sich von innen und werden lebendig. Während sie aufblühen und pulsieren, verwandeln sich auch die Esser auf den Bildschirmen. Langsam werden die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Geist und Materie unscharf. Rotraut Pape: "Wenn die gentechnisch behandelten Früchte anfangen nachzudenken, wird es für den Menschen bereits zu spät sein."

"Real Virtuality" hat Rotraut Pape ihre Ausstellung überschrieben. Diese Begriffsumdrehung stellt den Mythos von der digitalen Welt vom Kopf wieder auf die Füße. Der Titel ist dem gleichnamigen Video entnommen, das Rotraut Pape gerade mit Bazon Brock produziert hat. Brock weist darin auf die lange Tradition in unserer Kulturgeschichte hin, "Virtualität", also Vorgestelltes, Glaube, Welterklärungen, etc in Realität umzusetzen. Ob es die gemalten Engel, die grausamen Hexenverfolgungen oder der faschistische Rassenwahn war, "alles ist möglich" und "wahr", weil wir es aussprechen und tun. Rotraut Pape hat Brocks Vortrag mit vielen Bildern, Pictogrammen, Animationen etc illustriert, kommentiert, unterminiert. Es sind Bildfolgen, die so faszinieren, daß man schnell den argumentativen Faden verliert und nicht mehr zuhört. Am Ende wird der dozierende, bereits zur Computer-Datei gewordene Bazon Brock einfach ausgeschaltet oder gelöscht.

Die Einzelausstellung von Rotraut Pape im Kasseler Kunstverein wurde in Zusammenarbeit mit dem 15. Kasseler Dokumentarfilm- & Videofest eingerichtet (18. bis 22. November 1998). Dort wird eine zweiteilige Werkschau zu sehen sein. Ort: Kulturhaus Dock4.

21. November, 20 Uhr:
Werkschau Rotraut Pape I, "Freie Kunst"
Rückblick auf 20 Jahre: Film-Performance-Video-lnstallation
Vortrag von Rotraut Pape mit Ausschnitten aus (u.a):
"Studies on Entertainment", "Mutter Vater ist tot", "Du hast kein Herz"

22. November, 15 Uhr: Werkschau Rotraut Pape II, "Angewandte Kunst" Vortrag mit Arbeiten für arte anschließend, um 16 Uhr: Preview: "'Pop Odyssee 2': The House of the Rising Punk" 59 Min., Realisation: Christoph Dreher/Rotraut Pape


Unerbittlicher Blick ins Innere

Begleitend zum Kasseler Dokumentar- und Videofest (bis 22. November)
zeigt der Kunstverein drei herausragende Video-Installationen von Rotraut Pape.

KASSEL • In der Kombination mit der digitalen Computer-Bildbearbeitung erweist sich die Videotechnik als ein nahezu grenzenloses Medium fur die Kunst. Gegenstände können belebt und wirkliche mit erfundenen Welten vermischt werden. Der entscheidende Punkt ist, daß die fotografisch-dokumentarischen Mittel der Videotechnik die künstlich hergestellte Welt als wirklich erscheinen lassen. Diesen Widerspruch hat die Berliner Künstlerin Rotraut Pape (Jahrgang 1956) mit ihrem Ausstellungstitel "Real Virtuality" thematisiert: das Vorgestellte (Vorgetäuschte) tritt als Wirkliches hervor.

Rotraut Pape hat ein Gespür für Raumbilder und sie hat Sinn für Witz. Ein gutes Beispiel dafür liefert die Installation "Das jüngste Gericht": In einem Doppelraum sieht man auf Monitoren, die auf überdimensionierte Stühle gestellt sind, kauende Gesichter, die sich im Grenzbereich von Menschen- und Puppenköpfen bewegen. Dazu hört man Kau-Geräusche. Die Monitore sind rund um einen Tisch mit zwölf Tellern gruppiert, der den Durchgang zwischen beiden Räumen blockiert. Was zu verspeisen ist, zeigen die Teller, aber nur in bildlicher Form.

Das Hauptwerk der Video-Ausstellung ist die Arbeit "der Garten", die einen unerbittlichen Blick in das Innere der Menschen und der Früchte eröffnet. Rotraut Pape bediente sich dazu der Kernspintomographien, mit deren Hilfe in der Medizin Körper transparent gemacht werden können. Während an zwei Wänden in riesenhafter Vergrößerung die (sich bewegenden) Durchleuchtungsbilder von einem Mann und einer Frau erscheinen, sind auf kleinen Monitoren innere Bilder von Früchten (Ananas. Paprika, Orangen...) zu sehen. Auch diese Aufnahmen verändern sich dank der digitalen Bearbeitung.

Die Künstlerin spielt aber auch mit dem Besucher. Vor den Monitoren hat sie die Früchte so plaziert, beleuchtet und verkabelt, daß man glaubt, Zeuge der tomographischen Untersuchung zu sein. In Wahrheit ist man natürlich Betrachter fertiger Videofilme. Noch ärger ist die Täuschung in der dritten Installation ("Die Wächter"), bei der die Besucher in dem Moment eine Video-Großprojektion auslösen, in dem sie in einen Lichtkegel treten. Der eigene Körper scheint durchleuchtet zu werden; noch mehr, man meint, die eigenen Gedanken würden in Bilder umgesetzt.

Die drei Arbeiten sind satirische Kommentare der medizinischen und gentechnischen Entwicklung. Man ist gebannt und amüsiert. (Bis 29. November. Mi-So 10-18 Uhr, Do 10-90 Uhr)
Dirk Schwarze