DIE MAUER - DER NEGATIVE HORIZONT

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Die Große Berliner Leere
von Til Radevagen, Tip Berlin, 1992

Die Chinesen haben die Große Chinesische Mauer- einziges menschliches Bauwerk, das vom Mond aus zu erkennen ist, wie Reisende berichteten, die dort gewesen waren.
Was haben die Berliner? Die große Leere, manche Erinnerungen, so oder so ideologische befrachtet. An die Mauer, die doch - wenn auch ungewollt - die ihre war. Zunehmend haben sie auch den Erinnerungsverlust. Denn es fehlen inzwischen fast überall die sinnlichen Anhaltspunkte für sie in der Stadtlandschaft. Sie wurde, in unhistorischer Windeseile, dem Erdboden gleichgemacht. Stattdessen haben viele einen Splitter, ein Fragment im Souvenirregal oder Setzkasten. Auf der ganzen Welt - in Texas oder der Ginza in Tokio können in Acryl versiegelte Bröckchen von ihr, "The Berlin Wall", erstanden werden, manche auf sich haltende Provinzmuseen haben inzwischen einen Meter Mauer in ihren Skulpturengärten stehen. Echtheitszertifikate gibts eben erst bei größeren Segmenten...
Die Mauer ist weg, wo ist sie geblieben? Siehe oben.

Das allmähliche und irgendwie verstörend schnelle Verschwinden der Mauer zeigt der Videofilm, den Rotraut Pape in vier Etappen in jener historischen Zeit aufnahm: Im November1989 spazierte sie das erstemal mit laufender Videokamera die sieben Kilometer von der Köpenicker Straße bis zum Reichstag. Diesen Gang wiederholte sie im darauffolgenden Frühjahr, Februar 1990. Das drittemal lief sie denselben Weg im August 1990 ab. Letztmalig irrte sie eher als sicher den Weg wissend mit suchender Kamera eine mehr imaginierte als vorhandene Trennlinie von Systemen entlang, genau ein Jahr nach der ersten Öffnung.
Von mal zu mal wird die Mauer unsichtbarer. Sie wird imaginär, weil: in den Köpfen existiert sie ja noch, wie wir indessen wissen. "Augenscheinlich" und überzeugend ist das Verfahren, womit Pape uns das deutlich werden läßt: sie hat den Bildschirm gevierteilt, vierfach sehen wir dem fortschreitenden Verschwinden zu, chronologisch - links oben: November 1989, rechts oben: Februar 1990, links unten: August 1990, rechts unten: November 1990.
So zerlegt ist das Bild, das uns synchron vier verschiedene Zustände des Weges zu den verschiedenen Aufnahmezeitpunkten zeigt. Welche Mühe mag es gekostet haben, vier Bildstränge, die in erheblichen zeitlichen Abständen entstanden, parallel so zu montieren? Schon konzeptionell, im Kopf mußten die Kamerawege so gelegt werden, daß - von wenigen Ausnahmen abgesehen - stetes die gleichen Stellen der Mauer (bzw. an ihrer Stelle das Luftloch) zu den vier Zeitpunkten im Bild sind. Der Laie kann es schwer ermessen, welche Arbeit am Schnittplatz das bedeutet.
Die Autorin, Kamerafrau und Cutterin in einer Person, Rotraut Pape, ist Berlinerin, familiär diesseits wie jenseits des abgebrochenen deutschen Limes verwurzelt, sie kannte das Bauwerk vielerorts gut, und von beiden Seiten.
Die Irritation über die Befremdlickeit des freien Raums an Stelle der Mauer überträgt sich auch auf den Betrachter des Videos. Viermal gleichzeitig der gleiche Weg, und es ist, als ob Äonen dazwischen lägen. Dieses Video ist ein zeitarchäologisches Dokument (falls es soetwas geben kann). Es ist auch ein Kunstwerk, das - neben vielen anderen Bezügen - das Verschwinden eines nach der geschichtlichen Wende des Herbstes 89 zum Kunstwerk gewandelten Kunstwerkes dokumentiert. - Ist das zuviel behauptet? - vom antifaschistischen Schutzwall, an dessen Fuße Menschen starben, wurde die Mauer auf der anderen Seite gerade in den dichtbesiedeltn Quartieren westlich entlang des Wegs zum Träger und Untergrund vieler Kunstwerke, der größten Wandzeitung und zum Erinnerungs-Initialenschnitzbaum aus Beton für Touristen, Atelier für Sprayer aus aller Herren Länder(diesseits des eisernen Vorhangs, bis auch der rostig wurde)...
Rotraut Pape hat das Video DIE MAUER - DER NEGATIVE HORIZONT allein produziert, der Neue Berliner Kunstverein trat etwas später als Koproduzent hinzu - in den Räumen seines Videoforums wird es deshalb uraufgeführt, technisch unterstützt wurde die Fertigstellung von Weltbild/Berlin und Frigo/Lyon. Interessenten am vierfachen Spaziergang ins Absurde: merken sich den Termin vor!