DIE MAUER - DER NEGATIVE HORIZONT

DIE MAUER - DER NEGATIVE HORIZONT

Der Anfang der neunziger Jahre korrespondiert in Europa mit dem Verschwinden von Raum, die beiden Blöcke absorbieren einander. Das Verbindungsglied zu den achtziger Jahren ist das Symbol weltweiter politischer Repräsentation: die Berliner Mauer, die von Tausenden von Pilgern aus aller Herren Länder buchstäblich in Stücke geschlagen wurde.
Der negative Horizont, die Berliner Mauer, zerfiel in unendlich viele Teile, die über die gesammte Erde verteilt sind: Millionen Menschen haben ein Stück ergattert, besitzen einen Teil der weltweit größten Medienwand. Berliner Betonsplitter, angereichert mit romantischer Enttäuschung, sind neue Relikte der modernen Zeit, sie haben ihren Weg in die Häuser und Taschen der Leute gefunden, sie sich einander zu schenken ist zu einem neuen Ritual geworden. Berlin als neuer Wallfahrtsort, an dem mit Pilgern vollbeladene Busse im Kreis herumfuhren.

Das Ende der Berliner Mauer hinterläßt ein vages nostalgisches Gefühl, war sie nicht das längste populäre Kunstwerk der Welt, gleichermaßen anziehend für bekannte internationale Künstler, wie für jedermann, der malen, übermalen, grüßen, kommentieren, - Zeichen setzen wollte. Diese internationale Ausstellung moderner Kunst verliert sich nun in Bruchstücken in alle Kulturräume.
Zu spät für die Restaurateure von morgen, die endlich das Unbewußte unserer Epoche entdecken, während sie die bis 28 Jahre alten Farbschichten der Mauer nacheinander abtragen und untersuchen.

Es scheint beschlossene Sache, jegliche Spuren, die an diese letzte deutsche Erfindung erinnern könnten, aus den Augen - aus dem Sinn - verbannen zu wollen. Alle Pläne, die Mauer ins Stadtbild zu integrieren, in Architektur einzubeziehen, müssen fehlgeschlagen sein. Jetzt ist nur noch der eingeweihte Beobachter in der Lage sein, Indizien für den ehemaligen Verlauf der Mauer durch die Stadt zu erspähen, Leben wächst mit atemberaubender Geschwindigkeit von beiden Seiten über den Todesstreifen, so daß bald nicht mal mehr die Linie, an der zwei verschiedene Sorten Straßenbelag aneinanderstoßen, sichtbar sein wird.
Durch das Verschwinden der Mauer wurde die Geschichte bestohlen.
RP 91


17.11.1989
Am 17. November 1989, eine Wochen nach dem Großen Tag, wurde die Mauer das erste Mal gefilmt. Kontinuierliche Handkamera, beginnend in der Köpenicker Straße in Kreuzberg.
Die Mauer steht mitten auf der Köpenicker Straße und hat diese zu einer Sackgasse gemacht. Sie ist bis unter den Rand bemalt. Wir folgen ihr. Hinter dem Künstlerhaus Betanien sehen wir die ersten großen, ehrgeizigen Malereien invielschichtiger Intensität, ein Stück weiter wird die Mauer wie ein Notizbuch benutzt, wird zu einer Ecke der einsamen Herzen, trägt an anderer Stelle großflächige Propagandaparolen, oder dient als 200 Meter lange Filmdekoration. Je näher wir dem Brandenburger Tor kommen, desto mehr Menschen bearbeiten die Mauer mit Hammer und Meißel, um ein Stück Mauer als Souvenier mitzunehmen. Vopos po-sieren oben auf der Mauer und rufen: "Unterlassen sie das Beschädigen der Grenzbefestigungsanlagen!" Rote Fahnen wehen im Wind neben dem Brandenburger Tor. Ein paar uniformierte Köpfe linsen hoch oben unter dem Viergespann mit der Siegesgöttin hervor, bestaunen den Satellitenantennenwald und Ü-Wagen-Park gegenüber, die Welt wartet auf die Öffnung des Brandenburger Tors. Es gibt Glühwein und Würstchen für die Pilger, zur Stärkung zwischen zwei Hammerschlä-gen, kleinere Löcher werden sichtbar, durch die man Vopos im Niemandsland herumstehen sieht, schutzlos dem ohrenbetäubenden Lärm ausgeliefert.

18.2.1990
Am 18. Februar 1990 wurde derselbe Abschnitt der Mauer erneut gefilmt. In Kreuzberg hat sich die Mauer nicht viel verändert, nach wie vor enden hier die umliegenden Strassen als Sackgassen, in der Nähe von Häusern haben die Bewohner große Teile der Mauer weiß gestrichen, damit das ständige Hämmern aufhört, denn als Souvenier gelten nur Stücke mit Grafiti drauf. Die 200 Meter Mauer aus dem Wenders Film sind sicher an ein Museum verkauft und durch einen Zaun ersetzt. Ein Loch in der Mauer wird zu einem neuen Übergang. Je näher wir dem Brandenburger Tor kommen, desto erbärmlicher der Zustand der Mauer. Lange, rostende Eisenstreben kommen aus dem Inneren der Mauer zum Vorschein, bis weit über Kopfhöhe hinaus ist alle Farbe abgeschlagen, das Resultat monatelanger Arbeit von Touristen und Professionellen, die an Touristen verkaufen. Größere Löcher öffnen das Blickfeld auf die zweite Mauer am anderen Ende des Todesstreifens, die noch ganz weiß ist. Vopos stehen hinter den Löchern und halten ein Schwätzchen mit vorübergehenden Passanten. Keine roten Fahnen mehr zu sehen. Die 4 Meter breite Mauer vor dem Brandenburger Tor ist von Menschen übersäht, Vopos versuchen diskret, den Menschenfluß zu stoppen, 10 Meter weiter ist ein neuer provisorischer Übergang eröffnet worden, an dem die Päße noch kontrollliert werden, und somit eine lange Warteschlange ensteht. Hinter dem Reichstag wird immer noch erbarmungslos auf die sketettähnlichen Reste der Mauer eingedroschen, es geht nicht darum, Souveniers zu fabrizieren, sondern darum, das Ding wegzuhauen. Große Löcher stehen aneinandergerreiht, die Menschen steigen hin und her durch die Mauer ins Niemandsland, auf dessen gegenüberliegender Seite man aber immernoch von der 2. Mauer am Betreten des anderen Teils der Stadt gehindert wird.

6.8.1990
Am 6. August 1990 wurde derselbe Gang an der Mauer entlang zum dritten Mal gefilmt. Große Teile der Mauer sind verschwunden, der nun zugängliche Todesstreifen ist zum neuen Naherholungsgebiet geworden. In Kreuzberg steht die Mauer noch außer auf Straßenkreuzungen: aus Sackgassen wurden frisch geteerte Durchgangsstraßen. Keine Paßkontrolle mehr. Der Verkehr rollt ungehindert durch die Mauer, deren aufgehackte Oberfläche schon wieder neu bemalt ist. Wir gehen im Niemandsland an ihrer Rückseite entlang, die stellenweise noch ganz weiß, stellenweise schon mit Grafiti bedeckt ist. Türkenjungs sprühen farblich geschmackvoll abgestimmte Pattern auf die noch glatte Oberfläche, um sie dann direkt hinterher selbst abzuschlagen und zu verkaufen. Je näher wir der Innenstadt kommen, desto weiter sind die Abbrucharbeiten fortgeschritten, herausgetrennte Mauersegmenten stehen in Gruppen (Osterinsel) zum Abtransport bereit, auseinandergebaute Wachtürme liegen im Sand, auf dem nichts wächst. Lange Strecken Mauer fehlen ganz. Wir folgen den Spuren der Mauer auf dem Boden, dem Geröllstreifen in der Straßenmitte, den Teerflecken in regelmäßigen Abständen, der Linie, an der zwei Sorten Straßenbelag zusammenstoßen.Die Mauer vor dem Brandenburger Tor ist weg, hunderte von Menschen stehen herum und erklären einander, wo sie stand. Das Brandenburger Tor ist eingerüstet, der vierspännige Wagen mit der Siegesgöttin, der nach dem Krieg um 180° gedreht wurde, ist durch das Firmenschild der Firma, die die Bauarbeiten durchführt, ersezt worden. Hinter dem Reichstag ist der Todesstreifen frisch geteert, Touristen schlendern zur Spree, betrachten die Boote, die jetzt wieder fahren.

19.11.1990
Der selbe Gang auf den Spuren der Mauer wird das letzte Mal Ende November aufgezeichnet. Es ist nichht schwierig, den ehemaligen Verlauf der Mauer zu erkennen, so schnell kann die Narbe, die von dieser ausgedehnten Grenzbefestigungsanlage quer durch die Stadt geschlagen wurde, nicht zuwachsen.Die gesammte Mauer ist weg, nur am ehemaligen Gestapohauptquartier hinter dem Gropius Bau sind 100 Meter erhalten. Ein mannshoher Gitterzaun integriert dieses letzte, auch ziemlich löcherige Stück Mauer in das Areal um die Ausgrabungen der Kellerräume des Gestapo-hauptquartiers. Es scheint der einzige angemessene Platz für die Mauer zu sein, den man finden konnte. Alle Pläne, die Mauer ins Stadtbild zu integrieren, müssen fehlgeschlagen sein. Sie findet ihren Platz als Ausstellungsstück in einem Park der schauerlichen Attraktionen der deutschen Geschichte.Überall im Niemandsland kommen die ersten Milimeter frisches Gras durch die neu aufgeschüttete Erde. Bald wird nur noch der eingeweihte Beobachter in der Lage sein, Indizien für den ehemaligen Verlauf der Mauer zu erspähen, Leben wächst mit atemberaubender Geschwindigkeit von beiden Seiten über den ehemaligen Todesstreifen.

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