WAS IST FRIGO

Frigo oder die elegante Alternative

Am Ende der 70er Jahre kam Bewegung in die Jugendkultur Europas. Überall und nirgends gleichzeitig entstehend, durchdrang sie die gesamte kulturelle Szene und verjagte die Gespenster der Vergangenheit, wenn auch provisorisch.

Extremer noch als die Popkultur begann die neue Künstlergeneration den epistemologischen Unterschied zwischen Kunst und Produkt, Öffentlichkeit und Kultur, Geschäft und Schöpfung zu beschwören. Anfang der 80er Jahre war Kunst weder zu verkaufen, noch zu kaufen, aber war das nicht immer schon so? Muntere Barbaren, geniale Diletanten und interdisziplinäre Individualisten formierten sich und schufen sich alternative Arbeitsräume und polymorphe Netzwerke.

Frigo war die französische Erfahrung dieser Bewegung. Es begann 1978 mit der kulturellen Underground-Zeitschrift “Faits Divers Magazine”, und der Suche nach einem alternativen Raum in Lyon: wir mieteten eine ehemalige Käserei mit einem riesigen Kühlraum. Der Ort „Frigo“ war geboren.

Das Konzept „Frigo“ entwickelte sich: öffentlich/privates Freiheits-, Forschungs-und Kunstlabor, das um drei Arbeitansätze: Privat-, Gruppen- und Netzwerkarbeit, organisiert wurde.1979 findet das „1.Art&Performance-Festival“ in Lyon im Frigo statt. Unterschiedlichste Künstler nehmen an Frigo´s Artist-in-Residence-Programmen teil, arbeiten im Frigo und stellen dort aus. (Benni Efrat, Mike Hentz, Fabrizio Plessi, Dieter Appelt, Rotraut Pape, Gusztav Hamos, Nigel Rolfe, Michael Sauer ...)

Frigo benutzt und mißbraucht die Medien. Um eine Spur der entstandenen Arbeiten zu konservieren, rüstet sich Frigo mit einem Videostudio, dokumentiert die Entstehung und Aufführung von Performances und Aktionen von Künstlern (Salomé & Castelli,Tom Marioni, Rose Finn Kelsey, Herman Nitsch, Sarkis, Paul McCarthy, Klaus Rinke, Dieter Tremlett...) und Tänzern (Pina Bausch, Andrew Degroat, Dominique Bagouet, Sankai Juku, Margareth Fisher ...) und setzt so Meilensteine in der Entwicklung einer europäischen Videosprache.

Archive sollen leben, also eröffnet Frigo eine Videogalerie und präsentiert regelmäßig eigene und fremde Arbeiten und Themenabende. Frigo gibt die 4. Edition von „Infermental“ heraus, das erste internationale Magazin auf Videokassetten. Frigo organisiert die „1. Internationalen Simultan Screenings“ in Zusammenarbeit mit 8 weiteren unabhängigen europäischen Strukturen.
Im Falle eines Wahlsiegs hatte der Präsidentschaftskandidat François Mitterrand versprochen, das Rundfunkgesetz zu liberalisieren. Frigo nimmt ihn beim Wort und gründet im Juli 1981 Radio Bellevue, eines der ersten Freien Radios Frankreichs (FM 94.9), 24stündige Ton-Skulptur und Bücke zwischen den Medien-Inseln. Täglich 20.000 Zuhörer verstehen die “message”.

Frigo stellt sich aus: Inszenierungen im Théâtre National Populaire in Lyon (“Avis de décès” von Heiner Müller), Videoinstallationen im Centre Pompidou in Paris (“Au fil des fleuves”, “Eau”, “Europe Copyright”), im Frankfurter Museeum Schirn, (“Visite à l´ex-position”), im Musée d´Art Moderne de Paris (“Good bye Mister Clean”). Performances im N.L.Centrum in Amsterdam (“Die Tragödie des Rainbow Warrior”) und auf der Biennale de Paris (“Studies on Moral&Entertainment”). Medienkunst entsteht vor Ort zur Ars Elektronika in Linz (“Le Ponton”), und wird mobil auf der documenta 8 in Kassel („Ponton Bus“).

Frigo lebt eine Utopie, einen täglichen Balanceakt zwischen den Disziplinen. Frigo finanziert sich selbst, durch Graphik- und Architekturaufträge,durch Szenographie und Videopoduktionen. So ist ein echter Frigo-Künstler vormittags D.J. bei Radio Bellevue, Choreograph für Industrieroboter am Nachmittag, abends filmt und montiert er Modernen Tanz, bereitet einen Auftritt mit der hauseigenen Live-Gruppe „Code-Public“ oder eine Ausstellung vor. Alle Ereignisse werden würdevoll gefeiert, die prunkvollen Frigo-Parties sind Legende.

Jede Zeit hat ihre Form und ihre Farbe. Die 90er Jahre kommen und die Türen des Frigo schließen sich. Man wird mobil und schwärmt aus, und das Netzwerk beginnt zu leben.

Gérard Couty am 9.9.1999

Frigo, Lyon
von Marie Christine Vernay in Kunstforum

Dieter Daniels über die 4. Edition von INFERMENTAL: Frigo, Lyon, Frankreich