BAZON BROCK: REAL VIRTUALITY

1998, TV Essay
REAL VIRTUALITY
Buch, Regie, Schnitt: Rotraut Pape
Grafische Linie: Gérard Couty, Kamera: Horst Markgraf, Ton: Joachim Fleischacker
Mit: Bazon Brock
8:30 min, Beta SP

Arbeit realisiert für den arte-Themenabend: Digital Spirit.


"Mir geht es um den Unterschied von >virtual reality< und von >real virtuality<, also um die Hauptdiskussion über die Digitalisierung unserer Welt.

Die meisten bisherigen Annahmen lauten, daß durch Digitalisierung unsere Welt in ein Zeichengefüge verwandelt werde, in dem es eigentlich nichts Reales mehr gäbe, denn die Zeichen beziehen sich ihrerseits wieder auf Zeichen und so fort.

Das heißt: die Realität wird virtualisiert, sie verschwindet langsam - mehr oder weniger... Nun kann man aber sehr einfach die Erfahrung machen, daß das offensichtlich nicht stimmt. Selbst wenn ich nur mit Zeichengefügen auf Computerdisplays umgehe und dann in etwa meinen Kopf auf den Bildschirm fallen lasse,

merke ich sehr wohl den Unterschied zwischen der Zeichenwelt - repräsentiert auf dem Schirm - und dem Schirm selber: ich hole mir nämlich eine Beule. Da kann also gar keine Rede davon sein, daß durch die Digitalisierung der Welt, durch die Verwandlung in Zeichen, die Wirklichkeit abhanden käme oder sich auflöse.

Also müssen wir zu einer anderen Erklärung ansetzen und die ist schon viele tausend Jahre alt, nämlich zu der Aussage, daß es um eine - auch bei der jetztigen Digitalisierung - um eine Realisierung des Virtuellen geht. Das Virtuelle ist ungefähr das, was wir im Kopfe haben: Gedanken, Gefühle, Vorstellungen oder Willensäußerungen, was immer eben in unserer Psyche geschieht, und das wird durch Worte, Bilder, Zeichen aller Art, Gesten, Mimik,Verhaltensweisen, etc. real eben: als Zeichen.

Nun, die Menschheit war immer schon beherrscht von virtuellen Vorstellungen: Gedanken, Bildern zum Beispiel von der Existenz von Göttern oder von Engeln oder von Teufeln oder von animistischen Geistern, die auf Bäumen leben, und alle Menschen versuchten immer schon diese bloßen virtuellen Gefüge in ihren Köpfen - diese psychischen Zustände - in Zeichen real werden ... zuwerden lassen. Sie bauten Tempel, sie bauten Kultstätten, entwickelten Malereien, entsprechende Kleidungen und Accesoires etc.

Wir realisieren also Virtualtität; das ist immer so gewesen, stellen Sie sich vor, die mittelalterlichen Menschen nahmen an, es gibt die virtuelle Gestalt des Engels und dann malten sie diesen Engel an die Wände von Kathedralen oder sie zeichneten... , oder gaben es in die Buchmalerei ein oder wie auch immer.

Real war dann eben das Zeichen des Engels.
Wenn wir jetzt auf diese Malerei reagieren, werden wir ja in bestimmter Weise selber Bestandteil dieser Paradiese, dieser Totenwelten etc.

Und das ist glaube ich ein enormer Effekt, der von der Digitalisierung ausgeht, wir können diese gesamten historischen Vorstellungen heute mit viel größerer Wirkung übertragen auf sehr viele gleichzeitig lebende Menschen und können durch diese Digitalisierung uns einerseits in das Paradies versetzen, andererseits in ein ägyptisches Totenreich versetzen, welche ... phantasies, welche Phantasielandschaften auch immer.

Nehmen wir mal an, wir wären besessen von bösen Geistern, dann werden wir infolge dieser Annahme uns in der Realität in irgendeiner Weise verhalten, wir werden zum Beispiel sagen :“Ich will mich schützen vor dem Zugriff der bösen Geister, ich vernagle also meine Fenster und Türen.“
Dann sind diese Fenster und Türen, vernagelte Fenster und Türen, eine Realität. Das heißt: in der digitalen Welt kommt es nicht darauf an, zu kritisieren, was jemand sich vorstellt, was er denkt, sondern: in welcher Weise diese Vorstellungen realisiert sind und welchen Status es hat und das ist ein altes sozialpsycholo-gisches Grundgesetz, das heißt: „Was immer wir im Kopfe haben, wird real durch die Konsequenzen dieses Für -Wahr-Haltens oder dieser Annahme“.

Und um diesen Sachverhalt geht es: wie können wir auf die Realität dessen schließen was uns jetzt von der digitalen Zeichenerzeugungsmaschinerie als Vorstellung angeboten wird, als Gedanke, als Bildfolge, als Weltsicht, als Raum-Zeit-Erfahrung und natürlich heißt das, wir können das nur überprüfen anhand der Auswirkungen, die das auf uns selbst hat, und wir selbst sind im wesentlichen eine Schnittstelle zwischen einer psychischen Steuerungseinheit , das gesamte zentale Nervensystem, und einem organismischem Substrat ..Leber, Galle, Nieren... und diese Einheit nennen wir Körper.


d.h. wenn es da eine wechselseitige, kontrollierende Beeinflussung gibt... ein Gehirn im Weckglas kann nicht funktionieren.
Das heißt, wir können in dieser Welt der Zeichen nicht leben, mit diesen wunderbaren Wiederholungsmaschinen, mit diesen Zeichengenerierungs-Maschinen,

mit diesen Imaginationsmaschinen der Totenreiche, der Götterreiche, der Geisterreiche, sondern wir müssen sie tatsächlich inkorporieren, und das ist diese entscheidende Wirkung, die diese Digitalisierung hat. Welche neue Körperschema, welche neuen Verhaltensweisen, welche neue Selbstwahrnehmung, welche Beziehungen werden sich da herausstellen, welche Beeinflussung wird das auf unsere körperliche Einheit von Psyche und Soma haben?

Wird sich also herausstellen, was wir als krankhaft vorstellen, daß, wenn wir in diese Zeichenwelten integriert werden, werden wir sozusagen einen psychischen Knacks bekommen und irre werden, psychotisch werden? Also wirklich in dieser Welt dann leben mit allen Konsequenzen äh.. unangemessenen Reaktionen auf die Realität von Mauern oder Treppen, oder Stockwerken...Etagen ect...und glauben wir könnten fliegen, und sausen dann mit dem Kopf auf den Boden.

Die Frage ist, ob die weitergehende Digitalisierung der Welt... Verwandlung der Welt in Zeichen für immer mehr Menschen diese Unterscheidungsfähigkeit minimiert oder vielleicht sogar verschärft...
d.h. daß wir eigentlich durch das Operieren mit den Zeichen einen geschärften Wirklichkeitssinn bekommen, durch die Steigerung des Möglichkeitssinns, weil wir nämlich ständig gezwungen sind, zwischen den verschiedenen Realitätsebenen zu unterscheiden, und das ist die positive Perspektive von Digitalisierung.

"Text in english"