FLIEGER DÜRFEN KEINE ANGST HABEN

1983, Film
FLIEGER DÜRFEN KEINE ANGST HABEN
Rotraut Pape
16mm, 44:00 min
Domnick-Film-Preis, 14. internationales Forum des junges Films, Berlin 1984

Am Anfang war die Musik.
Holger Hiller gab mir 4 Musikstücke, die in ihrer Reihenfolge nicht vertauscht werden durften. Der Film durchquert nacheinander diese Musikblöcke.
Die Kontinuität des Ab-Laufs wird dargestellt durch DIE PERSON, die um ihren neutralen Charakter zu kennzeichnen, nicht aus einem Mann besteht, sondern aus vielen: der Anzug wechselt die Köpfe. Gradlinig läuft DIE PERSON durch den Film, ohne Zeitbverlust über Schnittstellen, in denen die Welt klein wird (wenn DIE PERSON mit ein paar Schritten von Marseille nach Tanger läuft), die Häuser groß werden (wenn DIE PERSON in Berlin hineingeht, nach hinten aus dem Fenster auf Hongkong blickt), die Zeit verloren geht (wenn es eben nur nieselte, jetzt lange schon geschneit haben muß), in denen also alle Gesetze gebrochen werden, wie ich es sonst nur denken kann. (Rotraut Pape 84)

In "Flieger dürfen keine Angst haben" bereichert Rotraut Pape ihre filmästhetischen Erfindungen um narative Elemente, deren Brüchigkeit eine intensive Erfahrung von Diskontinuität und Chaos vermittelt. Die Identität der Personen und die Einheit von Räumen und Zeiten werden aufgehoben. So gibt Rotraut Pape dem Zuschauer die Freiheit, entweder assoziativ die angedeuteten Handlungsfragmente zu verknüpfen oder sich auf die optische und akustische Kraft der disparaten Elemente einzulassen.
(Jurybegündung Domnick-Film-Stipendium. 14. internationales Forum des junges Films, Berlinale 1984. Preis geteilt mit Heinz Emigholz für: "Die Basis des Make Up")

Rotraut Pape - ihre Avantgardefilme SOUTERRAIN (1978) und 90 GRAD (1980) waren auf dem "Forum" zu sehen - wendet in FLIEGER DÜRFEN KEINE ANGST HABEN die erarbeitete kinematografische Grammatik an und kehrt auf diese Weise das Herrschaftsverhältnis mit Leichtigkeit um: sie befolgt nicht Laborordnungen oder wie auch immer geartete ästhetishe Gesetze sondern macht sich Meterial und Formen disponibel Statt akademischer Aus-und Abgrenzungen öffnen sich in FLIEGER DÜRFEN KEINE ANGST HABEN die Welt, die Medien, die Identitäten. Lust und Mut erfüllt den Flieger, dem, wie jeder einsieht, Grenzen nichts bedeuten.
Die Person des Films durchläuft, habe ich richtig gezählt, 33 Identitäten. Sier erfährt dadurch eine deneidenswerte Bereicherung. Kai Schirmr (Berlin) ersteigt das Treppenhaus Drei rote Autos, die im Hof parken, sind dazwischengeschnitten und markieren die Distanz nach unten und die Zeit nach oben. Celeste ABM (Nizza) öffnet die Tür, Andreas Wollina (Berlin), Guy Lehmann (Hamburg), Oliver Hirschbiegel (Brüssel) und Karol Schneeweiß (Hamburg) durchwühlen Schränke und Fächer nach einem Objekt, das sich als roter Faden, nämlich als grün leuchtende Taschenlampe erweist . Eine Kriminalstory? Nicht nur das. Die Musik von Hoger Hiller setzt ein und bestimmt den Schnitt für die Bilder. In optisch-akustischen Rhythmen eskaliert die Wühlaktion zur Orgie.
Der Film überfliegt in niedriger Höhe die Grenzen von Medien (Film-Mudsik), Gattungen (experimenteller - narrativer Film) und Genres (Actionfilm, Agentenfilm, Sciece Fiction zum Schluß) die Töne, anfangs ganz in dieser Welt, verlieren sich in ferne Galaxien. Dem Inneren der viele Fragmente entströmt verborgene Energie. Die Gesetze der Kausalität, der sogenannten Anschlüsse, sind obsolet geworden. Der Fernsehturm in Hamburg, das World Trade Center in New York, und der Eiffelturm in Paris stehen nebeneinander. Die Türme sind eine Installation für den Pape-Film geworden.
Sie stehen noch heute. Die anderen Installationen werden vom Film während ihres Zusammenbruchs dokumentiert. 5 Kameras strecken hollywoodmäßig die Sensation des einstürzenden Riesenregals - bombastisch glorifiziert durch die Musik. FLIEGER DÜRFEN KEINE ANGST HABEN ist eine angenehmerweise gänzlich unpathetische filmische Performance. Der Film sucht und findet Verbündete überall in der Welt, von Hongkong, das logischerwise vor dem Fenster der verlassenen alten Hamburger Münze sein buntes Leben entfaltet, bis zum Hfen von Marseille. Die großen Entfernungen von der Avantgarde zur Gebrauchskunst, von einem Medium ins andere, von der einen Identität zu nächsten: der Flieger, immer unterwegs, ist überalll zu Haus. Drum hat er Mut. Rotraut Papes Film ist schiere Gegenwart: Jetztkunst.
(Dietrich Kuhlbrodt 1984)

All diese Filme sind immerauch empirische Untersuchungen. Der "Fliegerfilm" analysiert drei auf einander bezogene Phänomene, der Kunstproduktion, will sie nicht unreflektierte Cliches an sich herumschleppen, generell konfrontiert ist, und die sich bei derArbeit mit Film in spezifischer Weise kristallisieren. Rotraut Pape untersucht erstens das Verhältnis von Bild- und Tonstruktur, um deren sich aufdrängende, scheinbar "natürliche"Synthese und die sich gegenseitig determinierende Metaphorik oder Symbolhaftigkeit zu zerstören. Zweitens ist der Fliegerfilm eine Recherche über das typische Muster filmischen Erzählens. Bewußt oder unbewußt neigt man (als Produzent wie als Rezipient) dazu, die laufenden Bild er in eine story-Struktur zu pressen, sie unter Kategorien wie Sinn, Logik und aufbauende Kontinuität zu subsumieren, als ob es sich um Leben handle - Handlung eben. Zu diesem Mechanismus gehört drittens unabdingbar die Person als Subjekt, der Held. So funktionierte der bürgerliche Bildungsroman des 18.Jahrhunderts, und diese obsolet gewordenen Vorstellungen präformieren noch Ende des 20. Jahrhunderts die Flausen in unseren heutigen Köpfen. Rotraut Pape destruiert diesen fiktiven Helden und vermittelt im Film das wirkliche Realitätsprinzip: daß Subjekt und Identität in dem Maße beschworen werden, wie die Abwesenheit dessen, die Austauschbarkeit und Beliebigkeit, zunimmt. (Uta Brandes 1985)
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