NICHT NUR WASSER

1995 | Video
NICHT NUR WASSER
Rotraut Pape
25:47 min, stereo, Beta SP
Sonderpreis der Jury des 7. Marler Video-Kunst-Festivals 1996. Sonderpreis von Kanal 4

"NICHT NUR WASSER" ist eine visuelle Reflektion über das Essen. Fünf Männer und Frauen sitzen um einen runden Tisch. Auf ihren Tellern entstehen vor unseren Augen Nahrungsmittel, die höchst verwunderliche Metamorphosen durchmachen. Ananas, Melone, Vollkornbrot und andere Früchte vom Baum der Erkenntnis präsentieren sich uns von innen und werden lebendig. Während sie aufblühen, pulsieren und immer neue Formen annehmen, verwandeln sich auch die Esser. Langsam aber sicher lösen sich die Grenzen zwischen Innen und Außen auf, und mit dem Verschwinden der Raumgrenzen werden auch die Grenzen zwischen Geist und Materie unscharf. AC

"NICHT NUR WASSER" ist der dritte Teil der Raskin-Trilogie. Hier wird der einfache Vorgang eines Esens zu fünft zu einer größtmöglichen Surrealität verfremdet und gesteigert. Dabei reizt die Künstlerin mit großer Perfektion alle Möglichkeiten der Video- und Computertechniken aus. Die Arbeit regt an zum Nachdenken über den Erhalt und den Schutz der lebenswichtigen Resourcen der Erde für den Menschen. (Jo Eckhardt, NBK)

Eine sich drehende, blaue Orange.Und dann Gesichter, wie man sie aus etlichen Videos und Intallationen kennt: Die Raskins. Sie sind keinen Deut gealtert. Was ist ihr Geheimnis? Genmanipulation? Zum Essen bei den Raskins: digitalisierte Bahlsenkekse, Melonen, Artischocken, Paprika und anderes enthüllen ihr Innenleben. Der Aufstrich lebt. Das virtuelle Essen spielt mit dem Verhältnis Mahlzeit, Mensch und Mutation, 3d-Modelling und -Morphing lassen groteske Bilder enstehen. (Videofest Berlin 96)

Fangen wir doch einmal ganz von vorn an:
Film, insbesondere Kino-Film ist, wenn uns in einer Regie-Aufwallung blühenden romantischen Unsinns steinalte Dinosaurier mit Schlafzimmeraugen anblinzeln. Fernsehen ist, wenn irgendeine blondgelockte Gesangesschwuchtel einen Blauen Bock reitet. Hoher Unterhaltungswert ist in beiden Fällen garantiert.
Und was ist ein Video? Video ist das, was für Papa früher der Super-8-Film war: eine Konserve für die heitersten Momente des Familienlebens, gespickt mit Windelhosenflair und Tannennadeln.
Ein Video-Clip dagegen, das weiß jedes einigermaßen Popmusik-geschädigte Kind, ist in den meisten Fällen ein mit Tricks, Mode, Comics, Stories, Dramen, Witzen, Kulturgeschichte, Literatur und und und ... knallvollgepreßtes Elaborat, das mittels eines Songs in eine simultane Ansammlung von Images gezwängt wird, um dann zwischen supersonnigen Werbeblöcken über den Bildschirm gejagt zu werden.
Aber was, um alle Showgeschäfte in der Welt, ist Video-Kunst?
Nun, Video-Kunst ist so alt wie die Erfindung der Videokamera und der Videokassette selbst. Wenn wir Nam June Paiks Kamikaze-Fernsehen außer Acht lassen, gibt es Video-Kunst seit Mitte der 60er Jahre. Video-Kunst heute ist, knapp gesagt: die Abwesenheit von Fernsehen plus Lust zum Experiment plus die wahrgenommene Qualität der Langsamkeit plus Computermanipulation. Dennoch sind die Videozeiten im Unterschied zu jeder Übertragung holzschuhplattelnder Trachten-Gruppen-Umzüge erstaunlich kurz.
Das Videoforum des Neuen Berliner Kunstvereins (NBK), das seit 23 Jahren internationale Video-Kunst sammelt und teilweise auch produziert, ist eine der ältesten und verdienstvollsten Einrichtungen in Deutschland. Gisela Jo Eckhardt hat es gegründet und bisher rund 400 Titel zusammengetragen. Das ist enorm, wenn man bedenkt, daß der jährliche Ankaufsetat nur bei 8.000,- DM liegt.
Gestern präsentierte sich das Video-Forum innerhalb des neuen Veranstaltungskonzepts des NBK in der Chausseestraße - und zwar mit der Berliner Erstaufführung von Rotraut Papes Arbeit “Nicht nur Wasser”.
Rotraut Pape gehörte seit Beginn der 80er Jahre zur Künstlergruppe “M.Raskin Stichting ens”, die durch die furiose Vernetzung von Elementen aus Theater, Musik, Aktion, Installation, Politik und Live TV in multimedalen Auftritten von sich Reden machte.
Professionalität und Entertainment lagen bei diesen Auftritten auf einem Level, das gleichermaßen Suggestion wie Unterhaltsamkeit bot.Von dröger Video-Onanie im uniformen Langweilerstil also keine Spur.
"Raskin Stichting" haben sich mittlerweile aufgelöst. Als Bildpersonal in Papes Videos waren sie freilich wieder mit merkwürdig ferngesteuerten, halb-lebendigen Köpfen präsent. Das war’s, was erwartet wurde. Deshalb war der Andrang groß, die abschließende Fragerunde kurz und alle Konzentration lag auf dem Vorgeführten.

“Nicht nur Wasser” ist der letzte Teil der Raskin-Trilogie, an der Rotraut Pape mit ihren Freunden seit 1990 gearbeitet hat. Anhand der beiden ersten Teile “Rauchnächte” und “Du hast kein Herz” wurde deutlich, welchen Sprung hin zum elektronisch manipulierten Bild Rotraut Pape in den vergangenen 5 Jahren gemacht hat, ohne ihren Witz im Cyberspace einzubüßen.
“Nicht nur Wasser” ist Teil der dualen Welt und meint eigentlich “Unser täglich Brot gib uns heute”, nur daß Anfang und Ende in einem wundersamen wie sterilen Science-Fiction-Rahmen liegen. Da taucht eine Tischgesellschaft auf, die durch magisches Rühren auf dem leeren Teller die leckersten Früchte und kunstvoll arrangierte Menüs herbeizaubert, so in der Art eines hypermodernen Tischlein-deck-Dich.

Natürlich machen die auf diese Art und Weise herbeigewünschten Speisen nicht satt, bieten allerdings dem Auge ein Schlaraffenland, in dem blaue Zitronen herumfliegen, sich permanent wandelnde Apfel-Artischocken-Melonen und schwarz blutende Ananas-Paprikas. Welch wunderbar schreckliche Welt des Gen-Food, der Bier-Tabletten und entgleisten Gesichtszüge. Der Renaissance-Maler Arcimboldo, ein Meister der satt arrangierten Fruchtstilleben, wäre angesichts dieser illustren Speisenfolge sicherlich auch zu den Computerfreaks übergelaufen.

Video-Kunst dieser Art ist der Motor des zukünftigen Kinos. Die Kino-geläufige Verwandlung des “Terminator” vom Maschinen-Menschen zur Quecksilber-Figur exerziert Rotraut Pape mit ihrem Obst- und Gemüse-Morphing freilich mit noch viel mehr visuellem Einfallsreichtum und einer skurrilen wie poetischen Detail-genauigkeit.

Haben Sie schon mal eine halbe Birne sich entsaften und gleichzeitig vereisen sehen? Das ist der süßeste Horror, den man sich ohne Sex- und-Gewalt-Story ausmalen kann. Ein sofort entflammtes Fanpublikum dankte mit Applaus.
Christoph Tannert 21.09.95

Sonderpreis der Jury des 7. Marler Video-Kunst-Festivals 1996. Sonderpreis von Kanal 4. Begründung der Jury:
"Nicht nurWasser" ist das dritte Band der Raskin-Trilogie. Rotraut Pape setzt darin mit demonstrativer Künstlichkeit ein komisch-befremdendes Kammerspiel in Szene, das einen scheinbar einfachen und sinnlichen Vorgang zur größtmöglichen Surrealität verfremdet. Fünf Personen beginnen in einem unwirklichen Raum eine aseptische Mahlzeit und erleben dann während der verschiedenen Stationen des Essens eine sich steigernde Metamorphose der Dinge. Rotraut Pape reizt hierzu alle avancierten Möglichkeiten der Video- und Computertechnik (bis hin zur Computertomographie) mit sichtbarer Perfektion aus, um die gewohnten Alltäglichkeiten aus ihren Bezügen zu lösen und in neu definierte Zustände zu verwandeln und dabei auch frei schwebende Raumbewegungen von in sich scharf definierten Alltagsdingen zu erzeugen. Aus der Verbindung von technizistischer Anmutung und manieristisch überdehnter sowie zugleich unterkühlter Mimik der Schauspieler entwickelt sich eine Komik mit schrägen Zügen. Gestisches Understatement, computergenerierte Gestaltveränderung, eine karrikierend-exzessive Geräuschdramaturgie und eine synthetische, ins Giftige getönte Farbgebung akzentuieren in perfekter Kalkulation die virtuelle Welt der Bilder, die ganz bewußt nur wenigen Perspektivwechseln ausgesetzt werden und deren scheinbare Hochglanz-Sterilität von einem untergründigen Grinsen angefressen wird.