ZWEI FRÜCHTE VOM BAUM DER ERKENNTNIS

Klaus Wyborny
"Die Früchte vom Baum der Erkenntnis"

Eine Melone und ein Schwarzbrot auf präsentiertellerartigen Unterlagen in einer Vitrine - durch Kabel miteinander und mit danebenstehenden Monitoren verbunden, auf denen ein nicht ganz durchschaubarer technischer Prozess langsam sich ändernde Abbilder des Inneren dieser beiden Objekte produziert: "Die Früchte vom Baum der Erkenntnis" heisst die Videoinstallation Rotraut Papes im Botanischen Institut Hamburg - der Ort wirkt dem Titel angemessen. Fraglos werden uns Schwarzbrot und Melone hier als Früchte besagten Baumes angeboten; das Längliche, respektive Runde ihrer Gestalt erscheint dabei ähnlich vage dem Begriffspaar "Männlich/Weiblich" verkoppelt wie "Erkenntnis" mit dem "Erkennen" der Struktur ihres auf den Monitoren abgebildeten Inneren.

Die Genesis spricht allerdings von bloss einem Typ Frucht des Baums der Erkenntnis. Ihr von Gott verbotener Genuss wurde der Gefährtin Adams aus dem Mund der Schlange gepriesen: Das übertreten dieses Verbots liess uns Menschen gottgleich werden, weil es uns, wie es so elegant und weitreichend im Buch des Moses heisst, die Unterscheidungsfähigkeit zwischen "Gut und Böse" bescherte. Zunächst indes wurden Adam und seine zur Tatzeit noch namenlose Begleiterin ihrer Nacktheit gewahr - indem sie deren Unrecht fühlten, öffnete sich ihnen zum ersten Mal die Schere des Bösen: das kostete sie das ewige Leben; zur Strafe für ihre Übertretung wurden die Menschen für ewig sterblich. Preis für ein schäbiges Weiterleben wenigstens durch Generationenfolge, in der sich das Urteil über Gut und Böse freilich stets neu bewähren muss, um die Kette zur ursprünglichen Einsicht nicht abreissen zu lassen, ist Mühsal bei Schwangerschaft und Geburt. Und damit der nun wie Gott urteilsfähige Mensch das ewige Leben nicht wieder gewinnen könnte, indem er heimlich vom ebenfalls verbotenen Baum des Lebens kostete, wurde er zudem aus dem Garten Eden vertrieben.

Gegenüber solch konventioneller Darstellung des Sündenfalls, wie wir sie von den Vorläufern wahrer Videokunst, den Halbreliefs des Hochmittelalters, kennen - aus Maianos Arbeit an der Fassade des Doms zu Orvieto etwa - verhält sich Papes Ensemble freilich ähnlich verquer wie Nicolo oder Giovanni Pisanos dem dreizehnten Jahrhundert entsprungene Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Melone könnte wohl für Erkenntnisfrucht stehen - doch leider wächst sie nicht an Bäumen: erd-hervorgebracht ist sie eher verwandt der Schlange, an die imübrigen auch die offenliegenden Kabel des Ensembles ein wenig anzuspielen scheinen. Und das Schwarzbrot, das uns wie die Melone auf an Teller oder Schale - und damit an Opfer und Gabe - erinnernder Unterlage präsentiert wird und dessen mit Sonnenblumenkernen gesprenkelter längsquadriger Gestalt Pape in ihrer Objektbeschreibung den Namen "Sonnenblumenkernenergiebrot" verliehen hat? Gemeint ohne Zweifel als zweiter Typ Frucht, vielleicht in Folge des ursprünglichen Sündenfalls: seither muss der Mann auf dem Acker das Brot für die Art verdienen - aus Erde geworden schliesslich wieder zu Erde werdend. Darum wird ja auch der naiv gottgefällig viehhütende Abel vom pflügenden Kain erschlagen: Aussaat und Ernte sind Grundlage unserer Anstrengungen ums überleben geworden; das dem Acker abgerungene Brot speist in uns die Kraft zur Unterscheidung von Gut und Böse, aus der allein wir anscheinend inzwischen noch Lebenssinn beziehen können. So steht das Schwarzbrot hier für den zum Fleiss gezwungenen Adam-ähnlichen Teil der Menschheit und ist insofern in der Tat eine zweite Art Frucht vom Baum der Erkenntnis: nicht gottgeschaffen, stattdessen muttergeboren mit allen seltsamen Konsequenzen. Und wenn Melone in diesem Zusammenhang nicht simpel Frucht, sondern wie angedeutet und ganz im Sinne gnostischer Genesisauslegung - des mit Jesus zeitgenössischen Philons von Alexandria etwa - das weibliche Prinzip repräsentiert, den Eva-ähnlichen Anteil, könnte das Kabel zwischen ihr und dem Schwarzbrot auch als eine Art Nabelschnur herhalten; und die runden Unterlagen nicht nur an Opfer, Gabe und Schale anspielen, sondern in negativer Krümmung gleichzeitig an stilisiertes Podest, auf dem sich Papes Früchte wie antike Skulpturen auf Plinthen präsentieren. Erst nach der Vertreibung aus dem Paradies gab Adam übrigens seiner Gefährtin ihren Namen: nach dem Sündenfall nicht länger mehr "zwei in einem" sondern zu "eins plus eins" geworden, jedes mit eigener und dem Kainszeichen versehener Individualität. In Papes Vokabular: "Sonnenkernenergiebrot" nennt rundes Objekt "Monolone"- wie um auszudrücken, dass jetzt, lange nach der Verjagung des ackerbauenden Kain ins gottungefällige Nirgendwo, selbst Frauenbrust nicht mehr sein will, was sie war: inzwischen ist Nirgendwo überall - keine Sintflut hat dem etwas anhaben können. Irenäus von Lyon jedenfalls, der, um 170 die Gnostik bekämpfend, die orthodoxe Kircheninterpretation des Sündenfalls begründete, und ihn in geradezu modern anmutender Plattheit als Problem von verfrühtem Teenager-Sex interpretierte - von Gott verboten, weil nicht mit dem Ziel der Empfängnis verknüpft - hätte wenig Verständnis für Papes Vitrine gehabt

Während Schwarzbrot und Melone sich also in den Sammlungen des ein wenig verstaubt wirkenden botanischen Instituts (Samen verschiedener Getreidesorten, Diagramme zur Entstehung von Erdöl und auml;hnliches) ganz platzgerecht in der inzwischen ebenfalls ein wenig verstaubten Tradition konventioneller Abbildung von gegengeschlechtlichen Paare ansiedeln lassen - Adam/Eva, Jesus/Maria; antikisierend: Amor/Psyche, Athene/Marsyas, Aphrodite bzw. Jupiter plus jeweiligem Liebhaber - so bietet das Geschehen auf den Monitoren doch Zusätzliches, Neues: Zum Beispiel zweiundsechzig mit Hilfe eines Kernspin-Tomographen bewerkstelligte Schnitte durch eine Melone, die, von einem Rechner in 256 Einzelbilder verwandelt und zu einer Drehung ihres Inneren zusammengesetzt, schliesslich von unsichtbarem Videogerät auf dem Monitor - mit der Melone durch ein Kabelpaar verbunden - abgespielt werden. Momentan gilt die rechnerkontrollierte Rotation eines Objektes ja als Metapher für den Triumph menschlicher Raumbeherrschung - um wie viel mehr sollte es die Rotation eines zumindest symbolisch vollständig durchleuchteten Inneren sein! "Wir wissen! Und beherrschen!" will das sagen und feiern - in diesem Falle: was im Inneren des Weibes stattfindet, was es zu seinem rätselhaften Handeln bringt.

Was aber genau sehen wir nun so gemächlich rotieren, dass wir es besitzen zu können glauben? Vor allem eine in grob gekrümmtem Gitternetz angedeutete, in grauem Gallert zitternde Rundstruktur, ein Gespinst, das an Schulbuchaufnahmen von Chromosomenteilung erinnert, mehr noch an Gebärmutter, an Ultraschall-Aufgenommenes von Ungeborenem - an die Frucht Evas also, dem Thema und dem wissenschaftlichen Gestus, mit dem Papes Ensemble hier erscheint, ebenfalls durchaus angemessen. In einer langsamen Drehung verwandelt sich in diese Gestalt, statt orthodox der Zellteilung und programmiertem Wachstum zu erliegen, in etwas dem Organischen Fremdes - und spätestens hier wird klar, dass es sich nicht um wissenschaftlichem Kontext entrungenes Resultat, sondern um Gesetztes handelt, was aus sich heraus bedeuten will - ganz schäbig in einen (immer noch vom Tomographen durchleuchteten) laufende Tonbandkassette, von der her Hörbares erklingt: angedeutete Lockungen von Musik, die verstümmelter Sirenengesang sein könnten, doch auch knackende Schaltgeräusche. Von dort also, aus dem Zentrum des Weiblichen, aus dem man eher ein Baby schon im Dunkel ums Schreien sich bemühen vermutet, dringt Vorgefertigtes zu uns, bloss Technisches, das willenlos nicht mehr ganz begreifbare Erinnerung von sich gibt - das also gilt jetzt als Kern des Weiblichen, dessen Erkennen-Wollen, wie uns spätsteinzeitliche Skulptur verrät, seit zehntausenden Jahren die von ihrem Objekt geradezu besessene Domäne des mit Plus und Minus arbeitenden männnlich-menschlichen Verstandes ist.

Dessen Darstellung findet sich gegenüber. Während das Meloneninnere jedoch auf konventionellem Monitor sichtbar wird, erscheint das Wesen des Schwarzbrots, des Männlichen also, auf einem Messmonitor, der, hinter ihm stehend, an ein Oszilloskop erinnert, an etwas aus dem technisch-wissenschaftlichen Bereich; auf ihm, mit dem Objekt der Abbildung wieder ironisch durch Kabel verbunden, ein durch ebenfalls Tomographie gewonnenes Abbild des Brotes. Seine äussere Form erscheint grob reproduziert - es sind einzelne Sonnenblumenkerne wahrnehmbar - in seinem Zentrum befinden sich als eine Art Pendant zu der sich drehenden Rundstruktur inclusive laufender Kassette ein rotes Plus- und ein blaues Minussymbol, fraglos Metapher für die elektrische Natur der Energie, in die sich Brot in unserem Inneren verwandelt; aber wohl auch für die Dialektik männlichen Denkens: von Descartes zu Hegel, von Kepler zu Dirac, deren Folgerungen wir in immer neuer Hybris begegnen. In ihr beginnen wir uns jetzt erneut gottähnlich zu fühlen, endlich und tausende von Jahren nach dem Sündenfall, mit Kernenergie und gentechnisch verbesserten Früchten diesmal. Die Hohlheit dieser maskulinen Dialektik offenbart sich letzlich im durch sie gewonnenen Bild der Melone, deren Inneres sich wie im filmischen Schuss-Gegenschuss auf dem anderen Bildschirm offenbart: ein traurig schillernder Pas de Deux, bei dessen Deutung Humor sich aufdrängen möchte, doch es ist vor allem der Geist einfältiger List, der da mit unoptimistischem Witz zu uns spricht.

Die Früchte vom Baum der Erkenntnis - nun also selbst der Erkenntnis unterworfen: Und was kommt dabei heraus? Aus dem Inneren des Männlichen, aus dem Brot, für dessen Anerkennung Kain den Hirten Abel erschlug, ein vulgäres "Plus und Minus". Aus dem Weiblichen, der Melone, eine gespinstige Rundstruktur, die man nach einiger Zeit - nachdem man einen sorgfältigeren Standpunkt, den eines Frauenarztes zum Beispiel, anzunehmen versucht hat - nicht mehr recht für lebendig Inneres halten kann, so wenig wie die sich drehende Kassette für lockendes Weib: es scheint sich eher um eine Art Drahtgeflecht zu handeln, etwas Künstliches, aus einer Spaghetti-ähnlichen Substanz vielleicht, eine Art bloss oberflächlich plausibles Modell, weil das wirklich Innere nicht bemerkenswert genug abbildbar ist: Die comicverwandte Klarheit eines Modells wird Wirklichkeitsersatz - auch in der Wissenschaft. Gewirr plus sich drehendem Tonband: DNS plus technisch erzeugtem Sirenengesang im Inneren des Uteralen - simulierte Darstellung von Halbbekanntem soll uns glauben machen, wir hätten in unserer Erkenntnis endlich vom Baum des ewigen Lebens gekostet - kümmerliches Leben, das so ewig währen soll. Spricht all das aus Frau Pape? Ja - und: Nein. Es wird von ihr angesprochen. Ihr Geheimnis besteht aber nicht in Ansprache, sondern im Geschmack der Ausführung. Die Phasen einer Kernspin-Tomographie auf diese Art zu animieren, ist nicht gar so leicht - um Sichtbares für unsere Assoziationen zu liefern, wurde das Innere der Melone in der Tat durch Bastelei ersetzt: Aus Draht + Spaghetti (aus dieser Kombination spricht ein neuer Stil von Weiblichkeit) in echter Forschermanier zusammengebastelt wie Hahn/Meitners erste Experimente zur Kernspaltung - Kernenergiebrot trifft Monolone! Am richtigen Ort der Moderne, nicht auf einem Operationstisch, wie Mallarmé es uns glauben lassen wollte, sondern im wissenschaftlichen, in diesem Falle dem (übrigens schon halb verlassenen: die wirkliche Forschung findet inzwischen in einem vorstädtischen Neubau statt) botanischen Institut. Auch beim Kopieren der Tonbandschleife beobachten wir Papes Geschmackssicherheit: in der Präzision der Synchronität, dabei aber doch, trotz prinzipieller Schleifenstruktur, leichte Variation. Die Kassette läuft zunächst eine Weile normal und kehrt dann auf einmal die Bandtransportrichtung um; da aber die Bewegung kaum sichtbar ist, stellt sich diese Richtungsänderung optisch durch einen veränderten Stroboskopeffekt dar, aus dem in Verbindung mit verändertem Klangeindruck auf Richtungsumkehr geschlossen werden muss. Für jedes Wortfeld, das wir als Betrachter dem Dargestellten entziehen, muss man erst ins Denken kommen: wir sehen nicht nur Oberfläche - wir müssen erinnern. Geschmack ebenso bei den durch Einzelbildcolorierung nervös flackernden Plus- und Minuspol-Symbolen, die allmählich, wie bei einer Bildstörung, ihre Farbe verlieren und dann verschwinden; als wäre die Energie, die man durch Brotverzehr erhält, aufgebraucht, und müsse sich nun - anscheinend handelt es sich in diesem Fall um eine echte, variationslose Vorwärts-Rückwärts-Schleife - durch neuen Verzehr bis zu erneutem Verflackern regenerieren. Und selbstverständlich wird das Brot auf einem Messmonitor dargestellt, auf einer Männlichkeitsmetapher, wo Plus und Minus die Gleichstrompotentiale des Inneren von Kathodenstrahlröhren kennzeichnen, inclusive der sie steuernden Demodulatoren und Verstärker - während das Weibliche auf einem konventionellen Monitor erscheint, denn das sogenannte Rätsel des Weiblichen ist ja nicht nur in der Pornographie Hauptquelle des auf gewöhnlichen Videomonitoren auftauchenden üblichen Bildmaterials. Derartige Details, aus sich heraus und allein nichts, verraten Geschmackssicherheit, welche die den Kunstgeschmack gerade dominierenden Videoartisten aus irgendeinem Grunde nie erlangt haben - vielleicht, weil sie über Geschmack spotten zu können hoffen. Das Papesche Modell in seiner harmlos aussehenden, vom Geist hanseatischen Understatements beseelten Vitrine, strotzt jedenfalls von Leben, während Videoinstallationen sonst wohl vor allem die Erbärmlichkeit des - maximal sokratisch gebrochenen - wissenschaftlichen Versprechens wiedergeben: aus ihnen spricht erneut bloss die Schlange.

"Video Out" und "Audio Out" lesen wir auf den Kabeln, die einfach in Brot und Frucht stecken - der Humor, sie mit den Audio- und Videobuchsen der Monitore zu verkoppeln, verrät die Art der Chuzpe der Schlange! - die uns das ewige Leben kostete. Die von Gott gesetzte Feindschaft zwischen Menschheit und Schlange galt Jahrtausende lang, während der die Beherrschung der geraden Linie - auch der des Horizonts, den man schliesslich durchfuhr - Ziel und geradezu Symbol menschlichen Strebens war. Nun beginnt die Schlange uns erneut zu betören, in Gestalt von Kabelgeflechten diesmal, die in neue Welten zu führen versprechen. Die solche Vision ermöglichenden stupiden Maschinen bleiben wie die Videorekorder in Papes Arrangement, mit Hilfe derer das auf den Bildschirmen sich Abspielende erst sichtbar wird, verborgen. Kaum irgendwo gibt es interessante Echtzeit. Stattdessen verspricht man uns nun sogar das ewige Leben, zwar nur in Simulation von Wirklichkeit vorerst, aber eins, das, nicht mehr an Generationenfolge gebunden, immerhin bis auf ewig kopiert werden könnte. Der Preis der neuen Medienwelt scheint jedoch eine neue Vertreibung aus einem Paradies zu sein, dem selbstgeschaffenen diesmal, das endlich erreichbar vor uns liegt - in die Wüste einer uns bisher verschlossenen Dummheit offensichtlich, in der es nicht einmal mehr Gut und Böse gibt. 62 Schnitte mit dem Computertomographen durch eine präparierte Melone, die in die Banalität von 256 Einzelbilder verwandelt werden, die aus der Binärität der Rechner folgt: Rotation im Rechner - bisher letzter Triumph menschlicher Raumbeherrschung. In ironischem Understatement findet Pape Qualität. Als ob das Drehen eines Volumens schon seinen Besitz bedeutet, und auch noch für Ewigkeit. Ohne Textur, ohne Atomsubstanz in die Ewigkeit: das nennt man - erbärmlich! Immerhin: diese 256 Bilder ergeben die Illusion einer kontinuierlichen Drehung von 180 Grad, die durch Spiegelung zu einer vollständigen wird - darin ist Pape Spezialist. Auch im Einkopieren des Sich-Drehens der Kassette in das scheinbar organisch rotierende Objekt mit Hilfe der Blue-Box: filmgeschult - einer ihrer Filme ersten hiess "90 Grad" und arbeitete mit Spiegeln. In die Melone war eine mit Fett ausgegossenen Kassette eingebaut, aus der alle Metallteile entfernt wurden, da jedes Metall bei der Kernspin-Tomographie grobe Störungen produziert. "Plastik = Schwarz, Fett = Weiss" lautet die Formel, nach der diese Abbildung funktioniert, nicht einmal das rotierende Drahtmodell ist aus richtigem Draht. Filmgeschult: das bedeutet heutzutage mehr, als die Ausbreitungsbesessenen unter den für die neuen Medien Werbenden ahnen. Die Sorgfalt der Arbeit mit Film ist - erstaunlich übrigens, da im offenen Gegensatz zum Geist der meisten seiner Endprodukte - anti-geschwätzig. Dass bei ihm der Weg zwischen Absicht und Resultat auf Grund der inzwischen ein wenig veralteten Technologie ein wenig weit ist, lädt vielleicht zum Grübeln über die Natur von Weg und Resulat ein. Im Film ist das unbedingte Vertrauen an die ihn hervorbringende Technik, die sonst ja neu Erfundenes häufig auszeichnet, nur noch gebrochen vorhanden: man begreift bereits im Vornherein, dass Technik nicht Wunder, sondern nur menschengeschaffen ist - und sich dagegen sträubt, Menschliches entstehen zu lassen. Und es hat wohl auch etwas zu bedeuten, dass Film weniger einem Gerät anhaftet: Das Produkt selbst muss im Moment der Erscheinung Substanz annehmen. Papes Objekt jedenfalls ist nicht geschwätzig: selbst der Ton bemüht sich um Sparsamkeit, sein nur gelegentliches, durch Schleifen generiertes Auftauchen verrät höchste ouml;konomie und hat Bezug zur Zeitdauer, die man vor der Vitrine zu verweilen bereit ist. Auch die Momente vor so einer Erscheinung können einem Leben stehlen.

Die ebenfalls gelegentlich in der Gnostik auftauchende Vision, die Schlange verträte das eigentlich Gute, da sie den Menschen den Geschmack von Wahrheit und Erkenntnis nicht verweigern will - viel Videokunst möchte genau diese Einsicht verbreiten. Pape kann das nur ironisch sehen: der literaturgenehmen Sichtweise - die uns ja ebenfalls vom Buch der Bücher vermittelt wird - dass es seit dem Sündenfall etwas zu verbergen gilt und mit ihm infolgedessen darstellungswürdige Biographie beginnt, möchte sie sich anscheinend jedoch ebensowenig anschliessen: was hier von Aussen nicht sichtbar als Inneres auf den Monitoren erscheint, ist zu armselig, um Stoff für Erzählung zu liefern. Hinterhältig jedoch dabei: das Abgebildete ist getürkt und entspricht eher unserer Vorstellung von Harmlosigkeit als dem, was dort tatsächlich lauern könnte, es ist - brav, vom Exzessiven gereinigt. Papes Standpunkt ist eher geschwisterlich. Und gerade das Asexuelle daran schärft unseren Blick für die im Schrei des Sexuellen sich so leicht verbergende Entleerung der Moderne.

In ähnlich entschlossener Manier wie Papes Ensemble aus gewöhnlich darstellender, die Flachheit kaum verlassender Videokunst, traten nämlich einst die ersten Skulpturen des Mittelalters aus den Halbreliefs - am auffälligsten vielleicht im Fassadenschmuck des Doms von Siena, an dem uns, dort vielleicht nicht ganz zum ersten Mal, aber sicher schon in einer Art Vollendung, Giovanni Pisanos aus der dem Halbrelief noch ergebenen Lebensleistung seines Vaters Nicolo gewissermassen herausmodellierte Vollfiguren in Form von biblischen Propheten und antiken Philosophen begegnen, die als Vertreter dieses Schritts spektakulär aus der Fassade herausragen. Nur sehr wenige zur Schöpfung Fähige erreichen - das ist vielleicht die traurigste Lesart von Papes Installation - heutzutage noch ein ästhetisches Alter, in welchem sie den tatsächlichen Fall der Moderne abzuschätzen vermögen: indem sie dort ihr vielleicht erstes Paar betrachten - Moses und Miriam, Schwester des Moses, und den Blick, mit dem Miriam ihren zum Heiligen strebenden Bruder mass. Ja, Papes an Schuss und Gegenschuss im Film inclusive der dabei beim Betrachter fälligen Blickinterpretation erinnerndes Ensemble steht fraglos in der in Siena begonnen Tradition nicht mehr antik interagierender (d.h. nicht mehr miteinander direkt handgreiflich werdender) Paare.

Im Gegensatz zu den übrigen Figuren des Fassadenschmucks: Plato, Aristoteles, David, Habakuk ..., die in zeitloser Einsamkeit von dort auf uns herabblicken - schon der Ausdruck dieser Gestalten repräsentiert eine enorme Leistung - sind Moses und Miriam durch einen Blick verbunden, den berühmten namenlosen, in sich selbst hineinzustürzen scheinenden Blick Miriams, die, was aus ihrem Bruder wurde und gleichzeitig aus ihr selbst, mit in entsetzlicher Geistesanstrengung gestrecktem, schräg gewinkeltem Hals zu erfassen sich bemüht. Dieses in sich Hineinstürzen angesichts dessen, was aus der Christenheit ward, für deren Zustand ihre Lebensleistungen mitverantwortlich sind, erkennt man auch in anderen Figuren dieser Fassade, vor allem wohl in den Mienen Davids, Platos und Habakuks, ein unentwirrbares Entsetzen, mit dem sie von ihren erhöhten Positionen die unter ihnen auf dem Domvorplatz wimmelnde Menschheit beäugten - um schliesslich (weil die Originale schliesslich gegen Wind und Wetter geschützt werden müssen) im danebenliegenden Museum zu landen, wo sie im Subparterre nun sinnlos auf den Boden starren, während ausdrucksentleerte Kopien ihre Schmuckfunktion an der Fassade übernahmen: der Christenheit ebensowenig Gefahr wie Papes Pas de Deux in der Vitrine des Botanischen Instituts zu Haburg der Religion der sich exakt nennenden Kunst und Wissenschaft. Miriams Blick enthält mehr als diese Bestürzung grosser Männer, die man vor kurzem übrigens noch interessant an ausgerechnet Warhols Gesicht studieren konnte - er ist Blick der Gefährtin, der Schwester: der Blick Evas, bevor sie Eva ward. Er spricht von Paar auch in dem Sinne, dass Miriam ihren Bruder nach der Flucht aus auml;gypten zu benennen versuchte - wie einst Adam seine Gefährtin nach der Vertreibung aus dem Paradies - allerdings ohne den geringsten Erfolg. Ihr Blick erzeugt keinen Namen, er sieht und ist bloss Gestalt: der Beginn in diesem Sinne moderner Skulptur enthält gleichzeitig ihr Ende, auch davon spricht Papes erweitertes Zweikörper-Objekt. Die Verwandlung von Miriams Blick in den rennaissancegemalten Marias aufs Christuskind ist schon tiefer, sich dabei verkitschender Fall. In Papes Ensemble spricht das Entsetzen gottlob wieder unsentimental - als existierte es schon vor dem Sündenfall. Doch selbst Marias Blick scheint der Kunst inzwischen abhanden gekommen zu sein. Vielleicht ist Papes Versuch der letzte, der von der Schalheit des nun Erscheinenden aufrichtig spricht. Das Geschwätz von jedem, der ein Künstler ist, stellt einen neuen Sündenfall her - das ewige Leben der Kunst geht drauf, wo sich jeder gottähnlich fühlen muss. Und damit die Kunst selbst, die auch heute nicht häufiger ist, als zu Zeiten Giovanni Pisanos und seines ebenso erstaunlichen Vaters. Das ewige Leben versprechen heute die kabelgeborenen Medien: kopierfähig bis ins unendliche Glied. Doch welche Kunst, welche Kopie! - erbärmlicher noch als die dem Wetter gleichgültig trotzenden Kopien an der Domwand zu Siena. Die Originale grübeln währenddessen in einer Art Abstellkammer in noch gesteigerter Sinnlosigkeit vor sich hin - gar nicht einmal so unähnlich der Situation von Papes Vitrine in diesem botanischen Institut, das sich am Rand von Wissenschaftsgeschichte befindet, im Grunde gleich dem Subparterre des Sienesischen Museums bloss Abstellkammer: Duccio werden dort in den schönen Etagen die Pforten geöffnet. Duccio und dem Beginn der Malerei, der das lautstarke Medium Film schliesslich entsprang, vor dessen adamischer Gewalt sich Pape in diese Vitrine flüchtete. "Monolone" hat "Sonnenblumenkernenergiebrot" hervorgebracht und vermag es nicht gescheit zu benennen. Das obliegt jetzt anderer Instanz.