DIE FRÜCHTE VOM BAUM DER ERKENNTNIS (PERFORMANCE)

1993, Performance
DIE FRÜCHTE VOM BAUM DER ERKENNTNIS (PERFORMANCE)
Rotraut Pape
Bonn, Ausstellungshalle der BRD, Kongreß: Sehsucht. Eräugnis und Ent-Täuschung. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung im 20. Jahrhundert.

Videoperformance für Melonen, Brot und Paprika. Kernspintomographien auf BetaSp 40 min, Videoprojektion, Ton, 1993. Mit freundlicher Unterstützung von Daniel Heyer, Radiologische Klinik/UKE Hamburg.

(Gummihandschuhe anziehen, Serviette nehmen.) Ich werde Ihnen anhand einiger Beispiele zeigen, wie ich sehe. Es wird ganz einfach sein, und Sie werden es später mühelos nachmachen können.
Sie sehen hier eine kleine Versuchsanordnung: Messer, Mixer (Elektromesser, Handmixer hochhalten.), Auge (auf das Brettchen fassen: Bildstörung.) - mein Auge.
Dann haben wir hier die vier Versuchsobjekte, sogenannte kleine Patienten: eine Honigmelone, eine Wassermelone, ein Vollkornbrot und eine Paprikaschote.

Beginnen wir also hiermit: (Paprikaschote nehmen und mit Serviette abreiben.)

Die Form, die Farbe zu sehen, ist leicht. Alles nur eine Frage des Lichts. (Paprikaschote im Lichtkegel drehen.) Aber der Blick ins Innere der Dinge ist unmöglich - versuche ich hineinzusehen, wird alles schwarz. (Paprikaschote aufs Auge drücken.) Die Oberfläche trennt uns vom Wesen der Dinge, oberflächlich gesehen, liegt also da das Geheimnis: in der Oberfläche.

Logische Konsequenz: Um hineinsehen zu können, muß das Ding aufgeschnitten werden. (Erste Scheibe von Paprika mit Elektromesser abschneiden.)

Machen Sie das mit langsamen, tiefen Schnitten, und legen Sie dann jede Scheibe an einen eigens dafür freigehaltenen Platz.

{Paprikascheibe auf das Brett >Auge< legen: Bild 1 auf Leinwand.)

Achten Sie darauf, die Schnitte möglichst parallel zueinander anzusetzen. Schneiden Sie in einem rechten Winkel zur Basis mit Richtung auf die Anziehungskraft. Rücken Sie dem Ding auf die Pelle. (Zweite Scheibe von Paprikaschote mit Elektromesser abschneiden.)

Sehen Sie sich nacheinander alles gut an. Alles ist abhängig von der Methode der Betrachtung. (Paprikascheibe auf das >Auge< legen: Bild 2 auf Leinwand.)

Benutzen Sie nur scharfes Werkzeug, und machen Sie es immer wieder sauber. (Dritte Scheibe von Paprika mit Elektromesser abschneiden, Messer abwischen.)

Scharfes Werkzeug für scharfe Konturen! Scharfes Werkzeug für saubere Linien! (Paprikascheibe auf das >Auge< legen: Bild 3 auf Leinwand. Messer abwischen.)

Scharfes Werkzeug für eine glatte Oberfläche! Jeder Schnitt eine neue Oberfläche. (Vierte Scheibe von Paprika mit Elektromesser abschneiden.)

Wir sehen, daß sogar in der Tiefe, in der Mitte der Dinge, alles auch nur aus Oberflächen besteht. Erkenntnis läfit sich nur in der Beziehung zwischen ihnen finden. (Paprikascheibe auf das >Auge< legen: Bild 4 auf Leinwand. Messer abwischen.)

Der nächste Schritt erfordert daher etwas Konzentration: Halten Sie alle geschnittenen Informationen fest, und sehen Sie alle Oberflächen hintereinander, vorwärts und rückwärts. Lassen Sie sich das sozusagen scheibchenweise durch den Kopf gehen. Dazu schließt man die Augen, öffnet den Mund und hängt die Bilder an die eigenen Atemzüge.

(Tief durchatmen, Bild auf Leinwand beginnt, sich zu bewegen. Scheibenanimation.)

Nach diesem oberflächlichen Blick von außen auf die inneren Strukturen lassen Sie alle Informationen los. Jetzt geht es darum, sehr gut umzurühren.

(Paprikascheiben in den Glasbehälter legen. Handmixer anmachen und rühren.)

Reißen Sie bedenkenlos alle Zusammenhänge auseinander. Vermischen Sie alles. Begreifen Sie, wie sich die Konsistenz mit ständigem Rühren ändert. Schmeißen Sie alles durcheinander. Zwingen Sie die Welt, sich zu zeigen. Machen Sie das Objekt zum Subjekt, und hören Sie zu, was das Auge dem Gehirn erzählt. (Bild auf Leinwand wird zu 3D-Animation, dreht sich.)

Dann brauchen Sie nur noch zuzusehen, wie plötzlich das Bild sich zusammenzieht - und wir sehen das Herz der Dinge.

(Messer und Mixer saubermachen, Gummihandschuhe ausziehen, Serviette weglegen).

(Neue Gummihandschuhe nehmen, neue Serviette nehmen, Brot nehmen.)


Kommen wir zu unserem zweiten kleinen Patienten, dem Sonnenblumenkernenergiebrot.
Verlassen wir wieder unseren externen Blickwinkel. Da wir wissen, daß diese objektive Realität vom Beobachter abhängt, setze ich diesmal die Schnitte nicht senkrecht, sondern horizontal an. (Erste Scheibe vom Brot mit Elektromesser abschneiden.)

Machen Sie die Augen auf und legen Sie das Bild hinein. Bewegen Sie ihren Augapfel jetzt nicht mehr, verringern Sie seine Reibung in der Augenhöhle.

(Brotscheibe auf das >Auge< legen: Bild 1 auf Leinwand

Tun Sie einfach so, als wären Sie ein leerer Spiegel. (Zweite Scheibe vom Brot mit Elektromesser abschneiden.)

Bemühen Sie sich nicht um einen Durschblick oder einen Überblick. Nehmen Sie auf, speichern Sie ab. (Brotscheibe auf das >Auge< legen: Bild 2 auf Leinwand.)
Geben Sie ihren Augen keine Hinweise. Schalten Sie also ihr Gedächtnis ab. Das ist ganz einfach. Für mich funktioniert das am besten mit Wolken: Ich denke mir Wolken in die Augehöhle und lasse sie dort kurz durchwischen.

(Zeitraffer-Wolkenbild auf Leinwand.) Es klebt so viel alter Dreck in der Netzhaut; wenn man da nicht ab und zu mal saubermacht, bleiben die meisten Bilder schon dort stecken.

(Dritte Scheibe vom Brot mit Elektromesser abschneiden.) Mit abgeschaltetem Gedächtnis werden sehr viel mehr Informationen aufgenommen, da sie nicht verarbeitet werden müssen. Stellen Sie auch alle Effektgeräte, Equalizer, Filter, Peakmeter, Noisegates und so weiter ab.

(Brotscheibe auf das >Auge< legen: Bild 3 auf Leinwand.) Ich lege mir das Bild vorne auf die Netzhaut, Scheibe für Scheibe wie einen Schleier aufs Auge, lasse nichts auf den Augenhintergrund durchsickern, das ausgeschaltete Gedächtnis hat den Sehnerv abgeriegelt, alle Verbindungen zur Kommandozentrale sind jetzt unterbrochen.

(Brotkrümel aufsammeln und auf das >Auge< legen: Bild 4 auf Leinwand.)

Passen Sie auf, daß zwischen den einzelnen Zuständen nichts verlorengeht. Kleine Krümel können Sie liegenlassen, die verschwinden eh im optischen Rauschen.

Dann geht es los. Ich schließe die Augen. Für einen Moment herrscht die totale elektrische Ruhe in der Netzhaut. (Leinwand schwarz.)

Dann mache ich mein Gedächtnis wieder an und lasse es völlig ungeordnet auf die immer noch daliegenden Bilder los. Meine Energie, die elektromagnetischen Felder meiner Konzentration, der thermische Lärm meines eigenen Klimas, schlägt ein. Und ich sehe die als Reaktion darauf entstehende Bewegung. (Scheibenanimation: Plus- und Minuspol werden sichtbar, alles wabert.)

Das ist die Kraft, die ausgeht von den Dingen.

(Messer und Mixer saubermachen, Gummihandschuhe ausziehen, Serviette weglegen.)

(Neue Gummihandschuhe anziehen, Wassermelone nehmen und mit einer sauberen Serviette abwischen.)

Die Oberfläche, die Haut, ist die Grenze zwischen mir und dem Ding, die Grenze zwischen dem Ding und der Außenwelt. Deswegen klebt auch so viel Dreck auf der Haut, den wir durch einfaches Abwischen nicht runterkriegen. Schneiden Sie daher gleich vorne und hinten eine dicke Scheibe ab, und werfen Sie sie einfach weg. (Erste und letzte Scheibe der Wassermelone mit Elektromesser abschneiden und wegwerfen.)

Nur wenn man weiß, welche Privilegien man als externer oder objektiver Beobachter hat, kann man sie vergessen. (Zweite Scheibe von Wassermelone mit Elektromesser abschneiden.)

Wenn man mit Computern arbeitet, kann man plötzlich auch im Kopf verschiedene Fenster gleichzeitig offenhalten. (Wassermelonenscheibe auf das >Auge< legen: Bild 2 auf Leinwand. Messer saubermachen.)

(Dritte Scheibe von Wassermelone mit Elektromesser abschneiden.) Wenn man weiß, daß es andere Sprachen gibt, kann man welche lernen. Wenn man Wörter für Dinge kennt, kann man sie sich vorstellen. (Wassermelone auf das >Auge< legen: Bild 3 auf Leinwand. Messer abwischen.)

(Vierte Scheibe von Wassermelone mit Elektromesser abschneiden.) Wenn man weiß, daß man vorn und hinten Augen hat, hat man seine Augen überall. (Wassermelonenscheibe auf das >Auge< legen: Bild 4 auf Leinwand.)

Es kommt allerdings sehr auf die eigene Stimmung an, in welcher Weise die eintreffenden Meldungen zu Bildern gemacht werden. Es müssen auch genug Energievorräte bereitstehen. Aber wie wir gesehen haben, liegen ja überall Batterien herum.

Wischen Sie immer gut das Werkzeug ab, es darf nicht kleben. (Fünfte Scheibe von Wassermelone mit Elektromesser abschneiden.) Das ist das Mindestmaß an Objektivität, um das Sie sich bemühen sollten. (Wassermelonenscheibe auf das >Auge< legen: Bild 5 auf Leinwand. Messer abwischen.)

Sie haben jetzt einen Haufen von inneren Oberflächen vor sich liegen, Sie haben sie nacheinander angesehen. Da sich alles irgendwo immerzu wiederholt, reicht es, eine Scheibe zu nehmen. Nehmen Sie nicht unbedingt das Mittelstück. Die anderen Scheiben können Sie vergessen. (Mittelgroße Wassermelonenscheibe nehmen, die anderen weg.)

Diese eine Scheibe sagt alles über die anderen. Sie muß nochmals betrachtet werden. (Mittelgroße Wassermelonenscheibe in kleine Stücke schneiden.) Sie schneiden am besten nicht im rechten Winkel hinein. So setzen Sie ihren Blick aus vielen Perspektiven zusammen. (Bild auf der Leinwand beginnt sich zu bewegen.) Sie sehen, wie sich die Informationen zusammenziehen, wie alles eben Gesehene mit der einen exemplarischen Scheibe abrufbar ist. Wenn man die Tiefe seines Blickes regulieren kann, kann man kurz unter die Oberfläche bis auf den Grund der Dinge sehen. (Wassermelonenstücke einsammeln und in Glasbehälter stopfen.)

Wir wollen aber mehr sehen. (Mixer anmachen und rühren.)

Wir müssen also die oberflächlichen Zusammenhänge noch weiter auseinanderreißen. Den Abstand verringern zwischen innen und außen. Rühren Sie gut. Immer kleiner werden die Abstände. Immer klarer wird die Form. (Scheibenanimation wird zu 3D-Objekt, es dreht sich. Im Inneren Atommodell.)

Wenn Sie gut gerührt haben, brauchen Sie nur noch hineinzusehen, und Sie sehen die Seele der Dinge.

Die Tatsache, daß wir nicht verstehen, wie das möglich ist, braucht uns nicht daran zu hindern zu sehen, daß es so ist.

(Messer und Mixer saubermachen, Gummihandschuhe ausziehen, Serviette weglegen.)

(Neue Gummihandschuhe anziehen. Honigmelone nehmen und mit einer sauberen Serviette abwischen.)


Mit Hilfe unserer letzten drei kleinen Patienten haben wir gesehen, wie einfach es ist, das Herz, die Kraft und die Seele der Dinge, die uns umgeben, zu sehen.

Dieser letzte kleine Patient hier, die sogenannte >Monolone<, soll uns helfen, noch etwas anderes zu sehen.

Wir konzentrieren also wieder den Blick unter die Oberfläche. (Erste und letzte Scheibe der Honigmelone mit Elektromesser abschneiden und nach hinten werfen.)

Wir sezieren das Objekt. Schmeißen Sie die äuferen Scheiben wieder gleich auf den Sondermüll. (Honigmelonenscheibe auf das >Auge< legen: Bild 1 auf Leinwand. Elektromesser abwischen.)

Legen Sie sich das Bild in die Netzhaut, jetzt setzt eine komplizierte Verrechnungsarbeit ein. Davon spüren Sie nichts. Elektrische Impulse springen über Synapsen und fahren erstmal ein in die ältesten Gebiete unseres Wahrnehmungsapparats, ins Zwischenhirn. (Zweite Scheibe von Honigmelone mit Elektromesser abschneiden .)

Legen Sie die nächste Scheibe auch gleich in die Wirklichkeit ihres Zwischenhirns, das tief in den unteren Schichten des Bewußtseins steckt. (Honigmelonenscheibe auf das >Auge< legen: Bild 2 auf Leinwand. Elektromesser abwischen.)

Sie benutzen dafür möglichst nur die Nervenbahnen, die bereits im Zwischenhirn enden. (Dritte Scheibe von Honigmelone mit Elektromesser abschneiden.)

Hier in dieser Welt existiert nichts, was ohne Bedeutung für uns wäre. (Honigmelone auf das >Auge< legen: Bild 3 auf Leinwand. Elektromesser abwischen.)

Legen Sie das Bild zu den anderen, und konzentrieren Sie sich auf den Raum zwischen den Fasern (Vierte Scheibe von Honigmelone mit Elektromesser abschneiden.)

Was hier lebt, hat mit dem Original nicht mehr viel zu tun. (Honigmelonenscheibe auf das >Auge< legen: Bild 4 auf Leinwand. Elektromesser abwischen.)

Konzentrieren Sie sich daher auf alles, was Sie bislang nicht gesehen haben, und halten Sie sich an diesem Bild fest. (letzte Scheibe nehmen und auf das >Auge< legen: Bild 5 auf Leinwand.)


Sie haben jetzt allerdings zu viele Informationen angehäuft, als daß Sie sie mit der Kapazität ihres Zwischenhirns noch bewegen könnten. Nehmen Sie nur ein paar Mittelstücke mit möglichst wenig Außenhaut. (Mit Elektromesser aus dem ganzen Haufen Scheiben die Mittelstücke rausschneiden und in Glasbehälter stopfen, Rest weg. Mixer anmachen und auf Stufe 1 umrühren.)

Jetzt lassen Sie die Programme ablaufen, die hier auf Ihrer >Festplatte< gespeichert sind. Sehen Sie zu, was passiert. Bewegen Sie sich zwischen den Bildpunkten hindurch, bis Sie ein scharfes Bild haben. (Honigmelonenscheibe fadet langsam in 3D-Animation. Standbild.)

Lassen Sie die Programme auf vollen Touren laufen - die Programme, die sozusagen vom Werk schon mitgeliefert wurden. (Mixer auf Stufe 2: 3 D -Animation beginnt sich zu drehen.)

Sehen Sie meinem Gehirn beim Arbeiten zu. Alles liegt glasklar vor uns. Wir sehen durch immaterielle Wände alles von innen an. Wir haben unseren äußeren Standpunkt verlassen. Unsere objektive Position. Das ist das Rezept für den klaren Blick. (Überblendung in Honigmelonenscheibe mit deutlich sichtbarem AudioTape.)

Und plötzlich merken Sie, dafi Sie das Bild schon kennen, obwohl Sie es vorher nie gesehen haben. Sie sehen die Stimme und verstehen die Sprache. (Das Audio-Tape beginnt sich zu drehen.)

(Messer abwischen, Handtuch zusammenfalten, Gummihandschuhe ausziehen.)

Alles, was wir sehen, ist abhängig von der Beschaffenheit unserer Wahrnehmungsorgane und der Struktur unseres Denkens; man könnte sogar sagen, die von uns erlebte Wirklichkeit ist eine Schöpfung unseres Gehirns.

Ich bin der Schöpfer meiner Welt.