WAS IST INFERMENTAL

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INFERMENTAL
Wie ein unabhängiges Netzwerk entsteht
Text von Rotraut Pape für Dagegen-Dabei-Katalog, Hamburg, Juni 98


Im Sommer ´81 hatten Oliver Hirschbiegel und ich einen Brief von der Berliner Videokünstlerin Astrid Heibach bekommen, die wir kurz vorher durch Mike Hentz bei der Aufführung unserer “Experimental-Filme“ im Rahmen der Filmfestspiele in Berlin kennengelernt hatten. Wir waren eingeladen, Beiträge für die 1. Edition von INFERMENTAL, einem „internationalen Bildperiodikum auf Video“, zu schicken. Zusammen mit dem ungarischen Initiator, dem Filmemacher Gábor Bódy hatte man ein sehr seriöses Manifest herausgegeben. * Es ging um die Revitalisierung des experimentellen Films, um eine lebendige Diskussion, um Entwicklung und Demonstration einer gemeinsamen globalen visuellen Sprache. Wir schickten Arbeiten und waren später vom Resultat angenehm überrascht: die 37 Beiträge der 4stündigen 1. Edition waren fast ausschließlich aus dem (internationalen) Freundes- und Bekanntenkreis der Editoren rekrutiert - ein exzellentes Kriterium, wie sich herausstellte.

Ein paar Monate später lernten Hirschbiegel und ich Gábor Bódy persönlich kennen, in der Hamburger Kunsthochschule nachts auf der Semester-Abschluß-Party ´82, er war nach Hamburg gekommen, um uns dort zu suchen. Er hätte sich natürlich telefonisch mit uns verabreden können, wir hatten uns ja noch nie gesehen, aber da stand er plötzlich vor uns und fragte, ob wir die 2. Edition des Videomagazins INFERMENTAL machen wollten.

Ich hatte ´77 angefangen, mit Video zu arbeiten, in der HfBK gab es eine schwarz/weiß-Kamera und ein furchtbar schweres open-wheel Aufzeichnungsgerät, keine Möglichkeit zu schneiden. Ein Klima entströmte den so hergestellten Videoarbeiten, das irgendwie mit dem gelebten Puls der Zeit nicht kompatibel war. Ab ´79 machte ich deshalb Filme; wegen der Möglichkeit des Zugriffs aufs Material, schneller Schnitte etc. Jetzt, ´82, hatte man gerade wieder begonnen, mit Video zu arbeiten, portable VHS-Rekorder in Farbe ersetzten im home-movie-Bereich die Super-8 Kamera, stationäre Geräte zu ebenso erschwinglichen Preisen nahmen direkt vom Fernseher auf, und wir hatten Zugang zu semi-professionellem Equipment (u-matic low band) an der Kunsthochschule. Wir benutzten Video hauptsächlich zur Dokumentation irgendwelcher Nacht- und Nebel- Aktionen unserer gerade gegründeten Performancegruppe M. Raskin Stichting ens.**, uns interessierte die Arbeit am Leben, Realität.

Wir fanden also die Vorstellung sofort gut, eine Art Magazin zusammenszustellen, das nicht auf Papier, sondern auf Video erscheint. Video nicht als neues Wortplacebo für hohe Filmkunst, sondern Video als „infomagnetischer Lebensraum“ für alle möglichen Disziplinen. Wie in der parallelen Welt der Popkultur gerade erfolgreich bewiesen wurde, war es möglich, geniale Konzerte zu geben, ohne ein Instrument zu beherrschen oder gar Noten lesen zu können. Im Bereich der visuellen Kunst ermöglichte der neuerlich einfache Zugang zu Abspiel- und Aufnahmegeräten einen anderen Umgang mit Wirklichkeit, aber auch einen Kontakt mit bislang ungekannten Subkulturen, z.B. hinter dem „Eisernen Vorhang“. (In den folgenden Jahren hatte man bei Ostblock-Reisen immer ein paar INFERMENTAL-Editionen in der Strumpfhose und brachte frische Tapes von dort zurück.)

Es folgten aufregende Diskussionen, um das anfangs doch etwas nach „alternativem-Best-Of-Film/Kunst-Festival“ klingende Konzept in Richtung >Interdisziplinär, >Infospeicher, >cultural studies etc. auszuweiten. Wir schrieben ein Konzept und erhielten finanzielle Unterstützung vom Hamburger Filmbüro. Wir verschickten Einladungen an alle Autoren der vorangegangenen Edition, an unsere Freunde und an Leute, die wir gut fanden. Wir drehten selbst, was wir für wichtig hielten, z.B. den letzten Arbeitstag von Diedrich Diederichsen in der Redaktion der Musikzeitschrift „Sounds“.
Aus dem eingegangenen Material ergaben sich fast von selbst Zuordnungen zu verschiedenen Themenkreisen, und wir faßten diese Tendenzen unter mehreren Überschriften zusammen: „Stress Therapie“, „Helden&Gnostiker“, „Modernes Leben“, „Was bin ich“, „Dienstleistungen“ und „Rituelle Mechanik“. Wir genossen die Möglichkeit, durch unsere Auswahl ein Statement zur Zeit abzugeben, natürlich rein subjektiv, vordergründig, unprätentiös - aber leidenschaftlich. Wir zogen Bilder vom Baghwan und ein Wissenschaftler-Interview über das zentristische Weltbild von Spinnen einigen gekonnten Video-Kunst-tapes vor, wir hatten keinerlei Probleme, Arbeiten - auch von renommierten Filmkünstlern - auf brutalste Weise zu kürzen, denn es ging uns hier weniger um das sinnliche Erleben von zeit-basierter Kunst, als um sinnvolle Kompilation ausgesuchter, natürlich auch sinnlicher, Information. Man sollte, bei Interesse an einer Arbeit, durch die von Dr. Vera Bódy betreute INFERMENTAL-Koordinationszentrale weiterführenden Kontakt zu den jeweiligen Künstlern herstellen können.

Die meisten der folgenden - immer wechselnden - Redaktionen verstanden und erweiterten dieses Konzept. Über Jahre hinweg zog sich so eine interdisziplinäre Diskussion zwischen den Beteiligten durch die jährlich jeweils zur Berlinale uraufgeführten Editionen. Es war immer eine gute Mischung aus alten Freunden und Bekannten und neuen Künstlern aus dem Umfeld der jeweiligen Redaktionen. Zur Herstellung jeder neuen Edition kam ein Redakteur einer vorangegangenen hinzu, um als „Supervisor“ beim rapide wachsenden Organisationsaufwand zu helfen, aber auch um das Konzept vorm Verwässern in Richtung “Best-of-Mainstream-Video-Art“ zu schützen.
Leider (oder gottseidank?) ging der Traum nie in Erfüllung, Infermental-Editionen für wenig Geld wie andere Magazine weltweit am Kiosk kaufen zu können, denn die in einem solchen Rahmen anfallenden copyright-Probleme und eine entsprechende kommerzielle Vertriebs-Logistik wären nie von uns zu bewältigen gewesesen. Es war schon so ein immenser Arbeitsaufwand für Vera Body, den Beteiligten am Ende jeden Jahres die ihnen zustehenden 50% der Einnahmen aus Aufführungen, Ankäufen, etc. zukommen zu lassen.

Wir suchten also nach Möglichkeiten, der Vorführung von Infermental einen „Event-Charakter“ zu geben, denn wer kann schon sechs Stunden z.B. in einem Museeum auf dem Stuhl sitzen? In Hamburg organisierte der Designer Saty die große Aufführung von INFERMENTAL 2 in dem alten, leerstehendem Schwimmbad auf der Reeperbahn. Das Wasser war lange abgedreht, und man saß bequem im Liegestuhl im tiefen Becken wie in einem gekachelten open-air-Kino. Es gab zu essen und zu trinken und einen guten Sound. Man konnte sich bewegen, ohne etwas zu verpassen, in den Umkleide- und Duschkabinen, auf den Toiletten und in den Ruheräumen standen Monitore in verschiedenen Formationen und kreeirten unzählige Möglichkeiten der Rezeption und des Austauschs.

INFERMENTAL Editionen wurden weltweit gesehen, auch in Moskau.
Mit den Jahren wurde aus dem Schneeball eine Lawine, die auch nach dem tragischen Tod von Gábor Bódy im Oktober ´85 weiterrollte.

Mit der Öffnung der Mauer ´89 und dem Verschwinden der Blöcke war dann dann für INFERMENTAL eine der Hauptmotivationen verschwunden. Das zu Zeiten des Kalten Krieges und der „Eastern European TV Revolution“ entwickelte Konzept hätte zu diesem Zeitpunkt erneuert werden müssen. Mit der 10. Edition schloß sich der Kreis nach 10 Jahren: die bislang letzte Edition von INFERMENTAL entstand ´91 in Mazedonien - damals noch Jugoslavien, während des Golfkriegs („CNN TV War“), einige Monate bevor der Krieg in Jugoslavien begann.

Rotraut Pape Juni 98
Editorin von INFERMENTAL 2, Hamburg 1983


* INFERMENTAL wurde von den FilmemacherInnen Gábor Bódy / Budapest, Astrid Heibach / Berlin, Georg Pinter / USA und Jozef Robakowski / Polen im Oktober ´81 auf der internationalen Filmwoche Mannheim ins Leben gerufen.

Der Name ist eine Wortschöpfung aus den Begriffen International, Ferment und Experimental.

** M. Raskin Stichting ens.: Andreas Coerper, Oliver Hirschbiegel, Elisabeth Fiege, Rotraut Pape, Kai Schirmer wurden international durch ihre Performances Studies on Entertainment" bekannt. (The Kitchen / New York ´84, steirischer herbst / Graz ´85, Biennale de Paris ´85, documenta 8, ´87 etc.)