Brot und Marmelade

Werkschau Rotraut Pape

Brot und Marmelade
Ein Rückblick auf 20 Jahre zeitbasierte
Kunst/Film/Performance/Video/Computer/Installation

Ich kam 1975 aus Berlin an die Kunsthochschule in Hamburg und saß ein paar Monate vor einer weißen Leinwand, unfähig, ein Bild zu malen, d.h. eine Sache auf den Punkt zu bringen. Ich wollte Bewegung, Entwicklung, Veränderung in der Zeit und belegte gleich im 2. Semester den ersten Videokurs, der für Künstler angeboten wurde. Ich schaffte es sogar, das große, extrem schwere open-wheel-Gerät für eine Woche mit nach Hause nehmen zu dürfen. Jedesmal, wenn ich die Kamera stoppte, brach das Bild zusammen und stabilisierte sich erst nach Sekunden; es war schnell klar, daß man nicht schneiden konnte. Ich inszenierte also kurze Stücke für die Kamera in realtime, bewegte sozusagen die Welt für die Kamera und versuchte, die Kamera selbst möglichst gar nicht anzufassen (»Marktstr! 1A«/1977)

Nach einer Vorführung zum Semesterende kam der Experimentalfilmdozent Rüdiger Neumann bei mir vorbei, brachte mir eine alte 16mm-Bolex und ein paar Rollen Film und sagte: »Du machst jetzt Filme.« Nach ein paar abgedrehten Rollen Film borgte er mir dann noch eine handliche, selbstgebaute, optische Kopierbank. Ich hatte unterdessen einen klobigen Schneidetisch organisiert, so daß ich völlig unabhängig arbeiten konnte. Endlich war es möglich, das Material anzufassen, indie Realität einzugreifen, Farben und Oberfläche zu verändern, mit der Schere Rhythmus hineinzuschneiden und ein Tempo zu finden, das irgendwie kompatibel war mit dem gelebten Puls der Zeit. Punk lag in der Luft, Baader/Meinhof noch nicht unter der Erde; »Geniale Dilletanten« formierten sich. Meine Filme (»Souterrain«/1978, »90°«/1980, »Flieger dürfen keine Angst haben«/1984) gewannen Preise; aber irgendwie frustrierte mich diese Konservendosen-Arbeit. Meine Mitstudenten und ich vereinsamten zusehends hinter Staffeleien oder in Schneideräumen. Also gründeten wir - Andreas Coerper, Eschi Fiege, Oliver Hirschbiegel, Kai Schirmer und ich - Anfang der 80er die Performancegruppe »M. Raskin Stichting Ens.«, um ein Stück Risiko ins Leben zurückzubringen. Wir arbeiteten projektbezogen und zu klar definierten Themen, die wir unter dem Titel »Studies on Entertainment« zusammenfaßten.

Jetzt, 1982, hatte man gerade wieder begonnen, mit Video zu arbeiten. Wir arbeiteten mit portablen VHS-Rekordern in Farbe; stationäre Geräte zu nahezu
erschwinglichen Preisen konnten direkt vom Fernseher aufnehmen. Ich begann,
Performances direkt für die Kamera zu machen (»Rotron«/1982). Wir benutzten
Video zur Dokumentation und Analyse unserer Raskin-Perfomance-Arbeit zwischen
geheimen Nacht- und Nebelaktionen und aufwendigen Spektakeln im musealen
Rahmen (»Biennale de Paris«, »The Kitchen« (New York), »steirischer herbst«, etc.)
und natürlich zwecks Austauschs von Information unter Kollegen. Wir arbeiteten
intensiv an diversen Editionen von »INFERMENTAL«. »INFERMENTAL« wurde vom
ungarischen Filmemacher Gabor Body 1980 ins Leben gerufen und war das erste
internationale Magazin auf Videokassetten mit wechselnden internationalen
Redaktionen. Video war kein neues Wort-Placebo für hohe Filmkunst—, sondern
ein »infomagnetischer Lebensraum« für alle möglichen Disziplinen. Wie in der
parallelen Welt der Popkultur gerade erfolgreich bewiesen wurde, war es
möglich, Konzerte zu geben, ohne ein Instrument zu beherrschen oder gar Noten
lesen zu können. Wie in der Musik brauchte man auch in der Kunst nichts mehr
richtig zu können. Die Attitüde zählte und nahm die Angst.

Im Bereich der visuellen Kunst ermöglichte der einfache Zugang zu Abspiel- und
Aufnahmegeräten einen anderen Umgang mit Wirklichkeit, aber auch einen
unkomplizierten Kontakt mit bislang unbekannten Subkulturen, z.B. hinter dem
&Mac253;Eisernen Vorhang—. (In den folgenden Jahren hatte man bei Ostblock-Reisen
immer ein paar »INFERMENTAL«-Editionen in der Strumpfhose und brachte frische
Tapes von dort zurück.)

Nach dem Studium trennten sich die Wege der »M. Raskin Stichting Ens.«. Ich
arbeitete noch ein paar Jahre zusammen mit Andreas Coerper unter dem Namen
»Raskin«. Einige Male schickten wir elektronische Doppelgänger, um Auftritte
für uns zu erledigen (»Der Tempel der Vernunft«/1986, »Studies on Hate Man and
Love Culture«/1987). Nahtlos wurden daraus computergesteuerte
Videoinstallationen (»WasWasWasWasWas«/1990, »Herz Haus Eis«/1992) oder
einzelne Tapes (»Mutter Vater ist tot«/1987, »Rauchnächte«/1990, »Du hast kein
Herz«/1991).

Unterdessen war ich nach Lyon gezogen, um im Kultur-Labor »Frigo« mit Gérard
Couty und Mike Hentz (»Minus Delta T«, »Code Public«) und manchmal bis zu 50
Gleichgesinnten wie die Made im Speck mitten in einem Performance-Space mit
Videostudio und Radiostation (Radio Bellevue: »Filme für die Ohren«) zu leben
und zu arbeiten. Man agierte dort breit gestreut, von subversiv
(Piraten-Fernsehsender, mobil+live) bis kommerziell (Télé Lyon Métropole,
Design), um diese alternative Struktur, diesen Freiraum, bis Ende der 80er am
Leben zu halten.

Zu Beginn der 90er wollten wir zurück nach Deutschland. Die Mauer war
gefallen, und ich drehte, als waschechte Berlinerin, ein aufwendiges Video über ihr
Verschwinden (»Die Mauer, der negative Horizont«/1989-92). Ich arbeitete
nachts bei Weltbild/Turner&Tailor, dem Video/Produktionsstudio zweier alter
Weggenossen, Rolf S. Wolkenstein und Christoph Dreher. Sie merkten schnell,
daß ich offensichtlich schon viele Nächte mit solcherart Geräten verbracht hatte,
und so begann meine Zeit als Freiwillige— bei Turner&Tailor. Wir begannen mit
den ersten Folgen von »Lost in Music« (LIM), einer Sendereihe für ZDF/arte/3Sat
über aktuelle Tendenzen in der Popmusik. Ich arbeitete hauptsächlich an den
LIM-Folgen von Dreher (»Tekkno Trance«, »Deep into Dub«, »Electronic Jam«
etc.) oder machte kurze, abgeschlossene Stücke - sogenannte Einzelbeiträge - wie
z.B. »Long weekend-XTC«, die später auch im Kunstkontext gezeigt wurden. Für
Turner&Tailor arbeitete ich auch an verschiedenen arte-Themenabenden
(»S,M,L,XXL-Streetfashion«, »Digital Spirit« (»Real Virtuality«) und an den
ersten Folgen der neuen Reihe »Pop-Odyssee« über Pop-Kultur (»Die Beach Boys
und der Satan«/1997, »The House of the Rising Punk«/1998). Bei meinen Arbeiten
für das Fernsehen war es mir immer wichtig, für jede Sendung einen inneren
Stil, eine eigene Form zu finden, die dann so manches Gesagte überflüssig
macht. Das ist mein persönlicher Auftrag und meine Begeisterung.

Eines Tages saß ich am Mittagstisch. Plötzlich bewegte sich das verrückte
Steak auf dem Teller. Die Reiskörner richteten sich nach Norden aus. Der Salat
breitete die Flügel aus und flog davon. Ich beschloß, der Sache auf den Grund
zu gehen und begann mit dem letzten Teil der »Raskin«-Trilogie (»Nicht nur
Wasser«, 1995). Es geht ums Essen und um die Natur der Energie, in die sich
Brot in unserem Inneren verwandelt und dort letztendlich auch die Kraft zur
Unterscheidung von Gut und Böse speist. Ich nahm Kontakt zu einem Radiologen
auf und begann, mit Kernspintomographien zu arbeiten, einer Technik aus der
Medizin, die es erlaubt, menschliche Körper und andere organische Gebilde von
innen zu betrachten. Ich brachte zuvor präparierte Früchte (Atomelone,
Morphine, Sonnenblumenkernenergiebrot etc.) ins Krankenhaus, um sie so
aufnehmen zu lassen. Es wurden jeweils ca. 60 imaginäre Schnitte durch die
kleinen Patienten— gemacht, die ich dann als Einzelbilder auf meinem Computer
zu Hause weiterbearbeiten und schließlich auf Video ausspielen konnte. Meine
kernspintomographierten »Früchte vom Baum des ewigen Lebens« wachsen und
pflanzen sich fort und werden jetzt in Ausstellungen durch einen digitalen
interaktiven Wächter bewacht.

Jetzt, nach fast 20 Jahren, ist es wieder möglich, endlich wieder möglich, das
Materialanzufassen—, in Realität einzugreifen, Farben und Oberfläche zu
verändern, Verschiedenes zusammenzufügen. Und das Zuhause am eigenen
mittelmäßigen Computer. Wenn ich auf die letzten 20 Jahre zurückblicke, fällt
mir auf, daß ich mich immer dort aufgehalten habe, wo Geräte in der Nähe
waren.
Bislang konnte man als Medienkünstler/in entweder im Umfeld eines Studios,
eines Senders oder einer Hochschule arbeiten. Man konnte und wollte die Geräte
nicht besitzen. Jetzt sieht es so aus, als ob sich das geändert hat. Manchmal
habe ich Lust, wieder auf Film zu arbeiten, aber dann brauche ich nur an das
grauenvolle Geräusch der zerreißenden Perforation im Projektor zu denken...
Und neuerdings denke ich an die Berge von Bändern, die in unserem Keller gerade zu
Marmelade werden.

Rotraut Pape, Oktober 98



Werkschau Rotraut Pape I
»Freie Kunst«
Samstag, 21.11., 20 Uhr

Vortrag von Rotraut Pape mit Ausschnitten aus:

Rotraut Pape:
Marktstr! 1a (1977, Video)
Flieger dürfen keine Angst haben (1984, 16mm)
Rotron (1982, Video)

M. Raskin Stichting Ens.:
Ideen+Taten führen zum Erfolg. Stuyvesant-Spot (1983, Video)
Studies on Entertainment (1981-1987, Performance)
Der Tempel der Vernunft (1986, Installation)

Raskin:
Mutter Vater ist tot (1987, Video)
WASWASWASWASWAS (1990, Installation)
Rauchnächte (1990, Video)
Du hast kein Herz (1991, Video)
HerzHausEis (1992, Installation)

Rotraut Pape:
Nicht nur Wasser (1995, Video)
Real Virtuality: Der Garten, die Wächter, das Jüngste Gericht (1998, Installation)


Werkschau Rotraut Pape II
»Angewandte Kunst«
Sonntag, 22.11., 15 Uhr

Vortrag von Rotraut Pape mit Videobeispielen:

Frigo:
Le Pape à Lyon (1986, 6Min)

Lost in music (Rotraut Pape):
Long weekend-XTC (1992, 2 Min. für LIM 1- Tekkno Trance)
HipHop Styles (1993, ~4 Min. für LIM 2- HipHop Hurrah)
Sampling, Diedrich Diederichsen (1995, 5.20 Min. für LIM 7 - Crossover)

Arte-Themenabende:
Streetfashion
Pape/Couty: Habillage (1996, 3 Min.)
Pape/Couty und Eschi Fiege: Samstagnachtfieber Wien (1996, 4 Min.)
Pape/Couty und André Lützen: Samstagnachtfieber Belfast (1996, 4 Min.)
Pape/Couty und Christian Vanderborght: Samstagnachtfieber Paris (1996, 4 Min.)
Digital Spirit
Pape/Couty: Habillage (1998, 3 Min.)
Pape: Real Virtuality (Bazon Brock) (1998, 8.30 Min.)


Sonntag, 22.11., 16 Uhr
im Programmblock PUNK
PREVIEW: »Pop Odyssee 2: The House of the Rising Punk«, 58 Min. Realisation:
Christoph Dreher, Rotraut Pape